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Erfahrung, daß auch in reinen Gemeinden und beim Scheine voller Wahrheit gar mancher sein Leben lang so dahin lebt, daß er nur durch die Gnade der Seelsorge am Sterbebette errettet wird. Und wir fügen bei, was oben beizufügen der Ort nicht war, daß viele auch durch diese letzte Gnade nicht errettet werden, daß man also beim Scheine der vollen gnadenreichen Wahrheit doch verloren gehen könne. Es ist ein Hartes, nur durch göttliche Kräfte Mögliches, bei der reinen Lehre selig zu werden. Wie viel schwerer wird es sein, bei untermengtem Irrtum selig zu werden! Die Liebe, die alles hofft, hofft gerne, daß die Taufe und die Stücke der Wahrheit auch die Angehörigen unreiner Particularkirchen hindurchreißen werden zum ewigen Leben; aber das ist eine Hoffnung, welche übrig bleibt, wenn alles andere zerrinnt. Je näher man einem Menschen steht, desto mehr wünscht man ihm, daß er die volle Wahrheit und die ganze Fülle der von Gott geschenkten Gnadenmittel besitzen und so leichteren Schrittes zum ewigen Leben kommen möge. Was man aber andern wünscht, muß man sich selbst ohne Zweifel auch wünschen. Denn es ist doch kein Leichtsinn größer und schwerer zu verantworten, als der, welcher das ewige Heil betrifft. Darum ist nur zur Vermeidung alles vorwitzigen Gerichts, nicht aber zur Begünstigung eines unverantwortlichen Indifferentismus in Sachen ewiger Wahrheit und Seligkeit anzuwenden, was im vorigen Capitel gesagt ist.

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 Wenn die Unterschiede der verschiedenen Particularkirchen nur in äußerlichen Dingen bestünden, z. B. in liturgischen Formen und Formeln, in Kleidung etc.; so könnte man sie über dem Gemeinsamen, das etwa da wäre, übersehen und einen jeden seines Gefallens (denn „seines Glaubens“ könnte man dann nicht sagen) leben laßen. Aber nun ist dem nicht so, sondern was sie scheidet, das sind Lehren, Auffaßungen göttlicher Wahrheit. Sie lehren verschieden – und das macht bedenklich! Denn wenn es schon überhaupt unmöglich ist, daß zwei verschiedene, über Eine Sache abgegebene Urtheile zugleich richtig sein können; so ist es insonderheit für unmöglich zuhalten, daß Ein göttliches Wort zwei zugleich richtige Deutungen empfange. Nur