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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

der Nacht können wir nicht schlechthin das alte Testament verstehen; denn wenn man es auch eine Nacht nennen könnte, so wäre es doch keine tadelnswerthe Nacht. Der Apostel aber redet von einer tadelnswerthen Nacht; nicht von einer Nacht, die Gott gemacht hat, wie das alte Testament, sondern von einer Nacht, wie sie die Menschen gemacht und unterhalb der lichten, hehren Gestirne ausgespannt haben, wie ein finsteres greuliches Gezelt, eine böse Hütte Kedar. Er redet ja auch bald von Werken der Finsternis, von Werken der Nacht, verwirft und verdammt sie, da kann die Nacht kein göttliches Geschöpf bedeuten, nicht die ehrliche Pracht des Königreichs Gottes im alten Testamente. Vom alten Testamente heißt es: „Auch die Finsternis ist Licht vor Dir, die Nacht leuchtet, wie der Tag.“ Dagegen die Nacht, von der St. Paulus spricht, ist grauenvoll, ein böses Menschenwerk, vollbracht unter Einfluß und Führung der Dämonen, ein teufelisch-menschliches Werk, das böse Werk von Anfang her, das Heidentum, die Abgötterei, ihre Blindheit, ihr finstrer Sinn, ihre Bosheit, ihre sittliche Versunkenheit, ihre Oede und Leere der Herzen, ihr unaussprechlicher, großer, weher Jammer. Das ist die Nacht, von der St. Paulus spricht: „Die Nacht ist vorgeschritten.“ Und der Tag? Der Tag ist das Gegenteil. Er ist das volle, helle, liebe, lichte Reich des Königs Christus, in dem es keine Abgötterei, keine Blindheit des Geistes, keine sittliche Versunkenheit, keinen Jammer und kein Unglück mehr gibt, wo die Erkenntnis Gottes das Land bedeckt, wie die Waßer den Meeresgrund, guter Wille die Menschheit führt, wie selige Winde, Fried und Freude die Herzen erfüllt, wie Frühlingswonne. Ha, wie mein Geist die Flügel regt, wenn ich des Tages gedenke, und seines wundervollen seligen Lebens! Ha, wie man fröhlich ist, wenn man die Fenster öffnen und rufen kann: Der Tag ist nahe gekommen! Aber ist man denn nicht am vollen Tage, meint der Apostel nicht, daß der Tag des lieben lichten Reiches schon zu der Zeit da gewesen sei, in welcher er diese Epistel schrieb? Nein, meine Brüder, das, was er den Tag heißt, ist der volle Mittag des Reiches Christi. Es ist dasselbe, was er in den Worten unseres Textes sagt: „Das Heil ist jetzt näher gekommen, als da wir gläubig wurden.“ Dies Heil und der Tag, der mit ihm gleichbedeutend ist, können nicht die Zeit bedeuten, in welcher der Apostel lebte; sonst könnte der Apostel nicht sagen: „Der Tag ist herbei gekommen, das Heil ist näher.“ Der Tag und das Heil sind der vollkommene Gegensatz der Nacht und des Heidentums, sind das vollkommne Reich des HErrn, das erscheinen wird erst dann, wenn der größte Triumph des Satans, das vollendete Heidentum der antichristlichen Zeit in den Abgrund gestürzt sein wird durch den, der da kommt, dessen Advent wir feiern, dem Seine Braut so sehnlich Hosianna singt und: „Komm bald, HErr JEsu.“ Wenn der HErr wird sitzen auf Seines Vaters David Thron, wenn die Zeit des Reiches David und Israel da sein wird, von welcher Er am Auffahrtstage zu den Aposteln spricht: „Es gebührt euch nicht zu wißen Zeit oder Stunde, welche der Vater Seiner Macht vorbehalten hat“: dann ist’s Tag, ein siegender mächtiger Tag, gegen welchen auch der letzte Kampf Gog’s und Magog’s nicht gelingen und nicht mehr siegen wird die alte Nacht. – Wenn nun aber das die richtige Deutung ist von Nacht und Tag, was ist dann die Zeit, in der St. Paulus schreibt, und die er beachten lehrt? Der Morgen ist’s, lieben Brüder, wo Tag und Nacht sich scheiden, die Stunde, wo man Ursach hat vom Schlafe aufzustehen. Die apostolische Zeit, das ist der frühe Morgen, der dem Tag vorangeht und der beachtet und geehrt sein will durch wache Sinnen. Und unser Zeitpunkt, unsre Zeit, das ist der späte Morgen, an dem sich wache Sinnen um so mehr geziemen. Warum wache Sinnen? Die Nacht ist schier hin, der Tag rückt heran. Warum ziemen uns die wachen Sinnen mehr? Weil der große Tag Christi und das Heil, das unter Seinen Flügeln aufgeht, uns um so viel näher ist, denn dem Apostel, als mehr Jahre und Tage hingegangen sind, seit jene ersten Väter entschliefen. Advent ist’s also, Morgen und Advent ist eins: die Zukunft Christi ist näher, als zur apostolischen Zeit, später Morgen ist es. „Auf, ermuntert eure Sinnen, denn es rinnt die Nacht von hinnen,“ so singen die Wächter nach 1800 Jahren. Laut singen sie durch die Straßen der Gemeine, dazu krähen die Hähne und das Licht wird stark, das von dem kommenden Christus weißagt. Gebt Acht auf die Zeit, in der ihr lebet! Der HErr ist nahe, und wenn der Apostel den Römern zuruft: „Schon ist’s Zeit und Stunde vom Schlafe aufzustehen,“ denn so sagt er; so muß

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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 003. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/10&oldid=- (Version vom 1.8.2018)