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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

ausgeteilt hat“, oder nach Luthers in diesem Verse vortrefflicher Uebersetzung, „daß niemand weiter von sich halte, denn sichs gebührt zu halten, sondern daß er mäßiglich von ihm halte, ein jeder nachdem Gott ausgeteilt hat das Maß des Glaubens.“ Es ist zwar in keiner Uebersetzung möglich, wörtlich und treffend den Sinn des Apostels wiederzugeben, namentlich aber den dreifachen Ausdruck von der rechten Selbstschätzung. Aber was der Apostel will, das ist dennoch klar. Er gibt ein Maß an, nach welchem man sich selbst zu schätzen hat; dieses aber ist nichts anderes, als das Maß des Glaubens, das Gott einem jeglichen Gliede am Leibe Christi mitgeteilt hat. Man wird unter dem Worte Glauben in dieser Stelle wol nicht blos den rechtfertigenden Glauben, sondern alles dasjenige zu verstehen haben, was wir Glaubensleben, geistliches Leben, inneres Leben zu nennen pflegen, und wenn wir auch den Ausdruck nicht völlig aus dem sechsten Verse verstehen, Glauben und Gnadengaben nicht ganz gleichbedeutend nehmen dürfen, so wird doch zur richtigen Auffaßung des Verhältnisses eines jeden Gliedes am Leibe Christi zu den andern Gliedern und zum Ganzen die Erkenntnis und Erwägung der vom HErrn geschenkten Gnadengaben besonders viel beitragen, auch die Gabe zum Glaubensleben zu rechnen sein. Wer das Maß seines Glaubenslebens und seiner Gabe richtig erkennt und schätzt und seine Stellung in der Gemeine darnach beurteilt, von dem kann man sagen, er habe das richtige Verhältnis zur Kirche gefunden, er halte nicht weiter von sich, denn sich gebührt zu halten, sondern er halte mäßiglich von sich. Wenn z. B. der heilige Paulus in jenen bekannten Stellen, darin er sein Verhältnis zu den andern Aposteln beschreibt, sagt, er halte dafür, daß er nicht weniger sei, als die hohen Apostel, daß er mehr gearbeitet habe, als die andern alle u. s. w., so schätzt er sich nach dem Maße des Glaubenslebens und der ihm verliehenen Gaben, und so groß auch das Urteil von ihm selber lautet, so ist es doch nicht übertrieben, nicht unmäßig, sondern im Gegenteil das gerechte, gesunde Urteil eines Mannes, dem die heilige Sophrosyne, oder die Tugend des rechten Maßes und der gesunden Ansicht aller Dinge zur andern und neuen Natur geworden ist. Ist es etwa eine Demut, wenn der Mensch nicht wahrhaftig ist und sich selbst nicht richtig schätzt noch erkennt? Ist nicht Wahrheit und Wahrhaftigkeit eine solche Grundlage der Demut, daß man ohne sie selbst zum Heuchler und Gleißner wird? Darf jemand seine Gaben gering schätzen, wenn sie groß sind, oder ists ein Beweis von geistlichem Leben, wenn einer das Maß des Glaubens nicht kennt, das in ihm ist? Man kann ja nicht blos durch die Menge der Sünden demütig werden, sondern auch durch die Größe der Gabe und durch die Fülle des inwendigen Lebens, welche Gott beigelegt hat. „Er hat Großes an mir gethan, der da mächtig ist und des Name heilig ist,“ ruft die Mutter Gottes; sie weiß ihre Größe; sie weiß aber auch ihre Niedrigkeit, wie sie denn ausruft: „Er hat die Niedrigkeit Seiner Magd angesehen.“ Da hebt das Gefühl der Niedrigkeit das Gefühl der Größe nicht auf; beide gehen wunderschön zusammen, wie auch David sagt: „Wenn du mich demütigst, machst du mich groß.“ – Uebrigens, meine lieben Brüder, sind ja freilich nicht alle Männer, wie St. Paulus, nicht alle Apostel, Propheten und Lehrer der Völker. Nicht alle werden daher mit solchem Maße des Glaubens und der Gaben ausgerüstet sein, daß sie sich eine hohe Stellung in der Kirche und eine große Wichtigkeit für dieselbe zuschreiben müßten. Die Glieder, aus denen der Leib zusammengesetzt ist, sind zum Teil auch sehr geringe Glieder, und das Maß des Glaubenslebens und der Gabe ist bei manchen, die zum Leibe gehören und selig werden, auch ein bescheidenes und geringes. Da wird also auch nicht jeder durch die Erkenntnis seines Verhältnisses zu der Kirche und ihren Gliedern eine Anreizung zur Selbstüberschätzung bekommen können. Nicht die Ueberschätzung, nicht die Form des Hochmuts, die auf andre verachtend heruntersieht, wol aber die wird zu fürchten sein, die neidisch auf andre hinaufsieht und durch Unzufriedenheit und Mismut den eigenen süßen Honigtropfen austreten möchte, den Gott gegeben hat, blos deswegen, weil andre mehr haben. Wahrlich es ist keine von beiden Hochmutsformen schön und erträglich, weder der Hochmut, noch der unzufriedene Neid. Am Ende aber läßt man sich doch den ersteren noch lieber gefallen als den letzteren, zumal ein Mensch, der seine eigne Gabe unzufrieden gering schätzt, seinem Edelstein nicht blos die goldne Faßung der zufriednen Freude, sondern auch den segensreichen Blick und Glanz für andre nimmt. O, es ist schön, wenn hochbegabte

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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 095. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/102&oldid=- (Version vom 1.8.2018)