Seite:Wilhelm Löhe - Epistel-Postille.pdf/103

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Menschen unter der Last der Gnaden wie unter einem kostbaren Kreuze gebeugt und demütig gehn; aber wahrlich sehr schön und anmutig, liebreizend und erhebend ist auch der Blick auf den zufriedenen Kleinen, der fröhlich über sein geringes Maß des Glaubens und der Gabe dieselben wie Flügel braucht und damit ein und demselben ewigen Ziele entgegen steuert, wie der Hochbegabte. Müde geht oft der letztere unter der Last der Gnaden, während der erstere sich öfter freudenvoll durch die Luft himmelwärts schwingt. Es liegt daher auch keineswegs daran, daß man ein großes Maß des Glaubens und der Gabe habe, – das ist ja Gottes Rath und Wille, wie er einen jeden ausstatten will. Vielmehr liegt alles daran, daß jeder seine Gabe erkenne und im Glauben darreiche Tugend und in der Tugend Bescheidenheit und in der Bescheidenheit Mäßigkeit und in der Mäßigkeit Geduld und in der Geduld Gottseligkeit und in der Gottseligkeit brüderliche Liebe und in der brüderlichen Liebe gemeine Liebe, wie St. Petrus im ersten Kapitel der andern Epistel sagt.

 Das ist eine wunderliche Sache, daß uns beim Lesen der apostolischen Briefe und der sonntäglichen Episteln so gar oft Dinge begegnen, die hochbetont sind und doch von den meisten übersehen werden, die vollkommen richtig sind und nichts desto weniger vergeßen und verachtet werden, als wären sie kindische Reden oder Lügen. So ist es auch hier mit dem dritten Teil unsrer Epistel. Es kann in der Welt keinen Grundsatz geben, der sich mehr von selbst empfiehlt, wie der, daß kein Mensch in der Kirche eine größere Stellung einnehmen kann, als er durch das Maß des Glaubens und der Gabe vermag. Es kann daher auch niemand leugnen, daß es eine Pflicht des Christenmenschen ist, nach dem Maß seines Glaubens und der Gabe zu forschen. Auch kann jedermann einsehen, daß Friede, Ruhe, Glück und Freude da wohnen muß, wo jeder bescheidentlich seine Gabe kennt und braucht; da hingegen Hader, Streit und Unglück eintreten muß, wo die Brüder nicht in der lebendigen Erkenntnis ihrer Gnade und Gabe stehen und gehen. Man kann auch sagen, daß die im zweiten Vers der Epistel gebotene Erneurung unsres Sinnes, so wie die Prüfung und Erfahrung des guten, wolgefälligen, vollkommnen Gotteswillens, ohne fortschreitende Erkenntnis der Gnade und Gabe gar nicht stattfinden kann, wie denn auch der Apostel beides durch den Uebergang aus dem zweiten in den dritten Vers in Zusammenhang bringt. Und doch, meine lieben Brüder, wer merkt auf das Alles, wer sucht sein Verhältnis zur Kirche und ihren Gliedern und zu dem Zweck sein Maß des Glaubens und der Begabung zu erkennen; Sündenerkenntnis wird von allen als ein Lebensziel erkannt, aber Gnaden- und Gaben-Erkenntnis? Es kann einem jeden einleuchten, daß dem hoffärtigen Treiben der Ueber- und Unterschätzung, der Selbsterhebung und der Verachtung andrer, kein kräftigerer Damm und mächtigerer Tod entgegengesetzt werden kann, als die bescheidene Erkenntnis der Gnaden und Gaben der einzelnen Glieder. Dennoch wird gar kein Fleiß darauf verwendet, keine Treue geübt, sondern man sucht sich wol gar das schwere Geschäft durch die Ausrede vom Hals zu schaffen, es sei nicht nötig, die Grenzen der Gnade und Gabe zu erkennen, es sei am Ende schöner und lieblicher, wenn man sei, was man könne, ohne gerade sein Maß und seine Grenzen im Bewußtsein zu tragen; man könne am Ende wol gar durch genaue Kenntnis der Gabe sich auf den Weg des Hochmuts versteigen. So entflieht man der Epistel, die wir heute gelesen, und andern Stellen, wie z. B. dem 12. Kapitel im 1 Kor.–Briefe. – So wird man am Ende gar weiser und klüger, als St. Paulus, ohne daß man doch einen geradern und richtigern Weg zum Flore aller Gaben, zum Frieden der Gemeinde, zur Tödtung der Leidenschaft angeben könnte. – Ach Jammer und Not, es muß doch ein jeder etwas von sich denken und halten, und der Apostel befiehlt das rechte Maß der Selbstschätzung einzuhalten, er befiehlt und offenbart dies Maß, indem er sagt, ein jeder soll sich nach Gabe und Glauben schätzen. Er befiehlt und du willst nicht. Was willst du denn? Willst du gar keine Meinung von dir selbst haben? Das geht nicht. Unklar oder klar hat jeder ein Urteil über sich; so suche doch das rechte, klare Urteil nach dem rechten Maße, das dich und andre bescheiden macht und uns alle friedlich über-, neben- und unterordnet. Das aber willst du nicht, du bist wie ein Stein, den man nicht fügen kann; du fügst dich nicht, da wird dich der Steinmetz wenden und schlagen und hauen, bis du dich fügst, oder vor Härtigkeit zerspringst und weggeworfen wirst, weg aus dem Bau, in welchen sich Gottes geistliche Steine zum Bau erheben, zum Preis des HErrn.

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 096. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/103&oldid=- (Version vom 1.8.2018)