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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Jungfrau, wenn sie Blumensträuße bilden will, zuvor zusammenlegt, was zusammen einen und denselbigen Platz im Strauße finden soll. Schon diese Warnehmung macht froh. Doch genügt sie dem suchenden und forschenden Auge nicht, welches das Ganze als ein Ganzes faßen will, und deshalb die harmonische Zusammenordnung nicht blos einzelner Sätze, sondern des ganzen Textes zu finden begehrt. Es bleibt aber auch dieses Begehren nicht lange unbefriedigt. Es zeigt sich dem aufmerksamen Forscher bald, daß der ganze Text sich in drei größere Partien auseinander legt, deren erste Vers 7 und 8, die zweite Vers 9–11, die dritte Vers 12–16, also immer eine Partie ein etwas kleineres Gebiet, als die darauf folgende umfaßt.

 Die erste Abteilung des Textes stellt uns die Gaben vor Augen, welche der reiche HErr denen geben will, die der Gemeinde in besondern Aemtern vorstehen; es sind Amtsgaben, die Er nicht blos geben, sondern auch an ihnen leuchten sehen will.

 Die zweite Abteilung zeigt Gaben, oder beßer, zu Tugenden entwickelte und ausgebildete Gaben, welche der HErr den Gemeindegliedern für ihr tägliches Leben unter einander gibt und dann von ihnen verlangt; es sind sammt und sonders Gaben und Tugenden des brüderlichen Zusammenlebens.

 In der dritten Abteilung des Textes wird auf die besondern Gemeindeverhältnisse eingegangen, durch welche sich die apostolische Zeit auszeichnet, und es werden am Beispiel dieser Zeit die herrlichen Gaben gezeigt, welche die Gemeinde aller Zeiten für ihr Leben nach oben, für ihr Verhältnis zu ihrem ewigen HErrn, (V. 12) – für ihr Leben nach außen hin, für ihr Verhältnis zu Brüdern aus andern Gemeinden, (V. 13) – für ihr Verhalten gegen die verfolgende Welt, (V. 14) – für das Leben unter Leid und Freud dieser Erde, (V. 15) – unter Brüdern von allerlei Art und Glücksumständen bedarf, (V. 16) und von Gott dem HErrn bekommt.

 Man kann sagen, daß alle Ermahnungen des letzten Teiles der Epistel Gaben und Tugenden berühren, wie sie der Christ der ersten Zeit in seinen besondern Verhältnissen bedurfte. Man könnte zwar dagegen einwenden, daß der 12. und 16. Vers doch allgemeinerer Art seien, und daß man in Anbetracht der Besonderheit dieser Verse aus der ganzen Epistel statt drei vielleicht fünf Teile machen sollte. Doch können wir wol die beiden genannten Verse auch in der angegebenen Weise verstehen, und ist auch unsre Einteilung vielleicht zu gering um für den hehren Text gerecht zu werden, so erleichtert sie uns doch die Auffaßung und hilft dem Verständnis und Gedächtnis, den Reichtum der heutigen Epistel etwas fester zu faßen und zu behalten.

 Obwol ich mir nun aber auf diese Weise den Weg gebahnt habe, mit euch über unsern herrlichen Text zu verhandeln, so gestehe ich es euch doch, noch bevor ich zu den einzelnen Teilen übergehe, daß ich es nicht für möglich halte, das Wort des Vortrags über alles und jedes in diesem Texte zu erstrecken. Die kalte Zeit und die Menge der heutigen Geschäfte mahnen auch abgesehen von der Eigentümlichkeit dieses Textes zur möglichsten Kürze; und wenn auch das nicht wäre, so habt ihr ja alle zumal oder fast alle den Text nicht vor euch; ihr habt euch noch immer nicht entschloßen, neben dem Gesangbuch ein Testament bei euch zu führen. Wie sollte es da möglich sein, eure Gedanken zusammenzuhalten und eure Aufmerksamkeit auf die große Menge der einzelnen Vermahnungen in diesem Texte fruchtbar zu verteilen. Es soll mir eine angenehme Gabe des guten HErrn und eine große Freude sein, wenn es mir gelingt, nach der gegebenen Einteilung euch etwas aus dem Reichtum, und aus dem Schatze Gottes ein erfreuendes Almosen für diesen Tag zu geben. Der HErr schenke mir die nötige Gabe, und laße euch nicht ungespeist und hungrig von dannen gehen.


I.

 Die Epistel des vorigen Sonntags hängt mit der heutigen auf das innigste zusammen, so sehr daß die ersten Verse des heutigen Textes mit den letzten des vorigen einen Satz bilden. Das ist allerdings in der deutschen Uebersetzung nicht zu merken, wol aber im Grundtexte, bei deßen Beschauung man sagen muß, daß die ersten zwei Verse der Epistel zwar den Uebergang machen zu den vom neunten Vers an folgenden selbstständigeren Ermahnungen, daß sie aber im Verhältnis zu den vorausgehenden Versen rein abhängig sind und mit ihnen durch den Satzbau zusammenhängen. Denn im Grunde und den Worten getreu müßte man, so undeutsch und wunderlich es

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 098. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/105&oldid=- (Version vom 1.8.2018)