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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Neue, „liebet einander“. Fast wurde es den Jüngern zu viel, immer nur das Wort von der Liebe zu hören, und sie fragten daher den greisen Apostel, warum er ihnen denn immer nur das Eine sage. Seine große Antwort war: weil es genug sei, wenn nur das Eine geschehe. Was ist das anders, als unser heutiger Text in einer johanneischen Geschichte? Oder was sagt die Geschichte anders, als daß wir eine bleibende Schuld der Liebe gegeneinander haben, und daß es genug und das Gesetz erfüllt sei, wenn diese Schuld entrichtet wird? So einig also sind über den Inhalt unsres Textes die Apostel, und so gewis können wir also annehmen, ihnen allen zu genügen, wenn wir uns den Inhalt der heutigen Epistel für Herz und Leben aneignen.

 Fast, meine lieben Brüder, ist damit schon der ganze Text klar. Die Liebe wird von niemandem erklärt, so tief und reich ist ihr Wesen, und doch gibt es kein gemeinverständlicheres Wort, als das Wort „Liebe“. Andere Worte bedürfen Erklärung, bei diesem aber findet man sich gleich darüber beruhigt, wenn man schweigt und wenn man redet.

 Unser Text beginnt mit den Worten: „Seid niemand nichts schuldig, es sei denn, daß ihr einander lieb habet.“ Diese Worte, meine Brüder, sind meines Erachtens verwunderlich, nicht bloß rücksichtlich deßen, was sie gestatten und befehlen, sondern auch in Anbetracht desjenigen, was sie verbieten. Ganz überraschend ist es, den apostolischen Ausdruck zu hören: Seid niemand nichts schuldig. Man könnte versuchen, das Wort „schuldig“ allgemein zu deuten, wie wenn es sagen sollte, wozu wir verpflichtet seien, und wozu nicht. Aber wenn man nun übersetzen wollte „Seid niemand zu etwas anderem verpflichtet, als zur Liebe“, so würde man, auch wenn die Uebersetzung sonst möglich wäre, doch gleich merken, daß solch ein Satz kein apostolischer sein könnte. Hat man doch allerdings mehr Pflichten gegen den Nächsten, als blos die Liebe. Man kann daher gar nicht anders als den Satz so nehmen, wie er beim ersten Lesen lautet, also ganz in dem Sinn: Ihr sollt keine andern als Liebesschulden haben. Es beginnt also die heutige Epistel, kann und muß man sagen, mit einem Verbote der Schulden. Da nun aber das ganze zeitliche Leben, der ganze Handel und Wandel auf Erden, mit Kauf und Verkauf, mit Entäußerung und Aneignung von Eigentum durchwebt ist, so kann es auch ohne Borg und Anleihe nicht abgehen. Es ist ohne allen Zweifel richtig, daß Schulden, Geldschulden nicht blos der ehrlichste und sogar frömmste Mann haben kann, sondern daß viele tausend fromme Menschen ohne allen Vorwurf ihres Gewißens, ja ohne Unruhe im Leben und Sterben wirklich Schulden haben. Man kann die Sache noch weiter treiben und sagen: Ein Mensch kann nicht bloß Schulden machen, um sein eignes zeitliches Vermögen aufzubeßern, sondern auch in der Absicht, das Vermögen deßen zu erhalten und aufzubeßern, von dem er leiht. Kurz, es kann so viele verschiedene Fälle geben, in welchen es vollkommen gerechtfertigt ist, Schulden zu haben, daß man durch die apostolischen Worte unsers Textes ganz erschreckt werden könnte. Wenn der Apostel überhaupt und für alle Fälle verbieten wollte, Schulden zu haben oder zu machen, so müßten nicht blos aller Menschen und aller Christen Verhältnisse ganz anders geordnet werden, sondern man müßte auch über die Blindheit der Kirche staunen, die in so langen Jahrhunderten gar nicht gesehen hätte, was der Apostel verbietet, oder über ihren großen Leichtsinn, mit welchem sie sich über ein apostolisches Verbot weggesetzt hätte. Dazu kommen doch noch Zeugnisse genug aus dem alten und neuen Testamente, aus welchen man deutlich erkennen kann, daß der Geist Gottes sonst nicht in der rücksichtslosen gestrengen Weise gegen Schulden eifert. Ich erinnere euch z. B. an die Geschichte von dem Knecht, der seinem Herrn zehntausend Pfund schuldig war, die er nicht zahlen konnte. Er erlangte bekanntlich Vergebung für seine Zahlungsunfähigkeit, keine Vergebung aber für die Unbarmherzigkeit, mit welcher er von seinem Mitknechte die hundert schuldigen Groschen einforderte. Kann man nun allerdings sagen, es sei in dieser Geschichte von Barmherzigkeit und Unbarmherzigkeit die Rede, nicht vom Recht und Unrecht der Schulden; so ist doch zu sehr vom Unrecht der Schulden geschwiegen, und die Forderung nicht der Gerechtigkeit, sondern der Barmherzigkeit eine so gewaltige und starke, daß man wohl sagen kann, der HErr würde in beiden Fällen anders verfahren sein, wenn es überhaupt und in allen Fällen Unrecht wäre Schulden zu haben. Eine ähnliche Bemerkung könnte man aus dem Briefe Pauli an Philemon beibringen. Da

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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 119. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/126&oldid=- (Version vom 1.8.2018)