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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

heißt es nemlich im 18. und 19. Verse von Onesimus: „Hat er dir Schaden gethan oder ist er dir etwas schuldig, das rechne mir auf. Ich Paulus hab’s mit eigener Hand geschrieben, ich wills tilgen.“ Nimm diese Verse wie du willst, im Ernst oder im feinen Scherze geschrieben, immerhin ist Paulus im Begriff eine Schuld zu übernehmen und einen Schuldbrief zu schreiben; immerhin geht daraus hervor, daß die heilige Schrift die Auffaßung unseres heutigen Textes nicht begünstigt, nach welcher es in allen Fällen verboten wäre, Schulden zu haben oder zu machen. Es wird daher die richtige Auffaßung sein, wenn wir sagen, der Apostel spricht: „Bleibet niemand etwas schuldig.“ Bei dieser Auffaßung erkennen wir deutlich, daß der Apostel von allen Christen, die Schulden haben, verlangt, daß sie dafür sorgen, und darum bemüht sind, ihren Gläubigern gerecht zu werden. Es kann wohl jemand Schulden haben, aber der Gläubiger soll nicht in Gefahr gebracht werden, sein Eigentum zu verlieren, er soll gedeckt sein. Die Schrift spricht nicht, „Der Gottlose borget“, wie wenn das Borgen schon eine Sünde wäre: sondern sie spricht: „Der Gottlose borget und bezahlet nicht,“ was eins ist mit dem Ausdruck: „Der Gottlose bleibt schuldig.“ Nun ist, es zwar gewis, daß manchmal ein Unglück herein fällt, dem Schuldner es unmöglich macht, zu zahlen, den Gläubiger um das Seine bringt, ohne daß weder dem einen noch dem andern eine Sünde oder Schuld beigemeßen werden kann. Das ist dann eben ein Unglück, für welches dem Schuldner zur Demüthigung ein getroster, stiller Muth, dem Gläubiger aber ein fröhliches, gütiges Verzichten zu wünschen ist. St. Paulus verbietet nicht das Unglück, sondern Sünde und Schuld, und will, daß niemand seinem Nächsten etwas schuldig bleibe aus Leichtsinn, Trägheit, Bosheit oder andern schlechten Gründen. Es soll ein jeder die heiligste, treueste Sorgfalt auf das Eigentum verwenden, das andre bei ihm stehen haben, und seine Rechnung und Wirtschaft also führen, daß er allezeit ruhig sterben, andre aber seinem Tode der Schulden halben ruhig zusehen können. Dabei ist es allerdings keinem unbenommen nach völliger Schuldenfreiheit zu streben. Wo Schulden, da ist oftmals Versuchung zur Sorge und Unruhe, da wächst leicht das Dorngestrüpp, das jede beßere Pflanze erstickt. Ist dir’s also vergönnt, erlaubt es irgend dein Geschäft und Beruf, so mache dich völlig los von Sorgen, von Schulden, und stelle dich so hinein in’s Leben, daß du die Last des Eigentums am leichtesten und fröhlichsten tragen kannst. Denn Eigentum ist Last; viel Eigentum bringt große Last; am glücklichsten und freiesten ist immer der Mensch, der nichts hat und nichts braucht, oder beßer der nichts hat, als was er braucht, am Ende auch nichts braucht, als was er hat. Das war der Weg des HErrn und Seiner Apostel, der auch vielen Heiligen so wohl gefallen hat, daß sie ihn aus eigner Liebe ohne Gottes Gebot und besondere Fügung betraten.

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 Da hätten wir nun, so hoffe ich, verstanden, was das heißt: „Seid niemand nichts schuldig.“ Nun aber heißt der Satz im Texte vollständig: „Seid niemand nichts schuldig, es sei denn, daß ihr euch unter einander lieb habet.“ Was soll das heißen? Sollen und dürfen wir das so verstehen, als sagte der Apostel: „Nichts dürft ihr eurem Nächsten schuldig bleiben, aber die Liebe dürft ihr ihm schuldig bleiben?“ Darf man denn die Liebe schuldig bleiben? Ist die Liebe ein Capital, das nicht uns, sondern andern gehört, so dürfen wir doch nicht inne halten, muthwillig, aus eignem Entschluß, was andern zugehört! Wenn aber das ist, warum sagt dann der Apostel nicht lieber: „Bleibt keinem etwas schuldig, am allerwenigsten die Liebe“; warum sagt er denn: „Bleibt niemand etwas schuldig, als die Liebe“? Weil die Liebe ein so großes Capital ist, daß wir, auch wenn wir immer daran zahlen, nimmer mit der Zahlung fertig werden, immer schuldig bleiben. Wenn der Mensch in die Welt kommt, so hat Gott dafür gesorgt, daß die Liebe, die er schuldig ist und die Ursache der Liebe immer größer wird, und in starken Progressionen dermaßen vorwärts schreitet, daß man diese Schuld auch im Lande der Ewigkeit, wo alle andern Schulden aufhören, nicht los wird, sondern ewig daran zahlen muß. Die Liebe ist für einen jeden eine ewige Schuld, sie zu behalten ist ganz unvermeidlich. Wenn jemand sagen wollte, man sollte keine Liebe schuldig bleiben, keine Liebesschuld mit in die Ewigkeit nehmen, so gäbe er damit schon zu erkennen, daß er weder ein Apostel, noch ein Schüler des apostolischen Glaubens sei. Wer da weiß, wie es um die Liebe gethan ist, der erkennt die Ewigkeit seiner Liebesschulden und ergibt sich mit Freuden darein, immer und ewig zu

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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 120. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/127&oldid=- (Version vom 1.8.2018)