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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

zahlen, nimmer und niemals dieser Schulden los zu werden. Eben damit wächst auch seine Zahlungsfähigkeit. Da geht es nicht wie bei Geldschulden, die man oft um so weniger zahlen kann, je mehr man sorget, sondern da kommt durch Erkenntnis der Schuld ein reicher Zufluß an Vermögen; die Erkenntnis der Armuth und Schuldigkeit zieht die Schleußen des Reichtums auf, daß sich die Waßer ergießen. Wer immer schuldig bleibt und immer zahlt, dem wird auch immerzu gegeben, daß er zahlen kann. Da hat Liebe, wer seine Liebesschuld erkennt; wer aber hat, dem wird gegeben, und die Liebe geht so am meisten im Schwange bei denen, die im tiefsten Bewußtsein der Liebesarmuth stehen. Daher ist es eine herrliche, schöne Lehre des Apostels, und wir dürfen sie tief in unsre Seelen schließen, wenn er spricht: „Seid niemand nichts schuldig, denn daß ihr euch unter einander lieb habet.“ Er lehrt uns damit nichts anderes, als daß die Liebe ein reiches, wallendes Meer sei, das nicht blos die Erde, sondern als ein himmlischer Ocean Himmel und Erde, Zeit und Ewigkeit umschlingt.

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 Der Apostel Paulus macht den Uebergang von dem ersten zum zweiten Hauptgedanken des Textes mit dem Wörtchen „denn“. Seid niemand nichts schuldig, spricht er, denn daß ihr euch unter einander lieb habet; „denn der den Andern liebet, hat das Gesetz erfüllt.“ Wozu nun dies „denn“? Es gibt den Grund an, weshalb man dem Nächsten nur die Liebe schuldig bleiben, d. h. immerfort zahlen soll. Der Grund aber beantwortet mögliche Einwürfe. Man konnte ja sagen, der Mensch ist seinem Nächsten nicht blos die Liebe schuldig; die zweite Tafel des Gesetzes enthält sieben Gebote; ja man könnte selbst die drei ersten, wenn man wollte, im Sinne der Pflichten deuten, die wir gegen den Nächsten zu erfüllen haben; der Mensch ist dem Menschen gar vieles schuldig. Auf diesen Einwand antwortet nun der Apostel, indem er sagt: „Wer den andern lieb hat, der hat das Gesetz erfüllt; alle andern Gebote sind in dem einen begriffen, du sollst deinen Nächsten lieben, wie dich selbst.“ Man zahlt also allerdings alles ab, was man schuldig ist, wenn man die Liebe zahlt. Um so größer und höher erscheint die Liebe selber, und damit wir nun diese Tugend der Tugenden in ihrem vollem Glanze sehen, so laßt uns einmal den Gedanken, mit welchem der Apostel seinen ersten Hauptgedanken von der Liebesschuldigkeit begründet, genauer erwägen. – Wir dürfen hiebei vielleicht auf den doppelten Ausdruck des heiligen Apostels aufmerksam machen, da er zuerst sagt: Wer den andern liebet, hat das Gesetz erfüllt; im 10. Verse aber: Die Liebe ist des Gesetzes Erfüllung, oder, wie es eigentlich heißt: „Fülle des Gesetzes ist die Liebe“. Der doppelte Ausdruck Pauli begründet einen doppelten Gedanken. Wer den andern lieb hat, der erfüllt das Gesetz, er vollstreckt die Gebote, er thut, wie St. Paulus Vers 10 sagt, dem Nächsten kein Uebel, die Liebe leitet ihn an, nicht blos alles zu unterlaßen, was die zweite Tafel des Gesetzes verbietet, weil es böse ist, sondern auch all das Gute zu thun, was als Gegentheil des Verbotenen in die zehn Worte vom Sinai mit eingeschloßen ist. Da erscheint also die Liebe als Vollstreckerin des Gesetzes. Nun könnte aber ein Mensch alle äußern Werke des Gesetzes thun, unsträflich leben, wie St. Paulus 1 Cor. 13 schreibt, seine Habe den Armen zur Speise, seinen Leib den Flammen übergeben, um andre zu retten; dennoch aber könnten bei den außerordentlichsten Anstrengungen seine Werke hohl und ohne Inhalt, er selbst ein tönendes Erz und eine klingende Schelle und innerlich nichts sein; es könnte ihm der Inhalt fehlen, weil er die Liebe nicht hätte. Daher sagt der Apostel: „Fülle des Gesetzes ist die Liebe.“ Da erscheint das gesammte Gesetz und dazu alle äußerliche Gesetzeserfüllung als eine hohle Form, als eine Schale, welche beide leer und werthlos sind, wenn nicht die Liebe als Inhalt hinein gegoßen wird. Während also zuerst die Liebe als die beste Vollstreckerin des Gesetzes erscheint, so sehen wir sie zuletzt als den Inhalt des Gesetzes und aller Thaten, als die süße, selige Fülle aller Lebensformen. Können wir leugnen, daß das eigentlich zwei verschiedene Gedanken sind, und möchten wir einen davon missen? Wird die Liebe das Gesetz vollstrecken, wenn sie nicht Herz und Gesetz zuvor mit ihrem treuen Willen und heiligen Drang erfüllt hat? Kann auch eins ohne das andre nur sein? Könnte man eines wählen, das andre verschmähen? Die Vollstreckung des Gesetzes ist der Leib, und die innere Fülle der Meinung und Absicht, der innere Drang des Wohlwollens ist die Seele der Liebe: kann ich den Leib wählen ohne die Seele, oder die Seele ohne den Leib, muß ich nicht

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 121. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/128&oldid=- (Version vom 1.8.2018)