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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

wer sich selbst bezwang.“ Aber wer sich selbst bezwang, ist ein trauriger, thränenreicher Held und die Tugend der Selbstbezwingung eine seufzende, weinende Sklavin des Rechtes und Gesetzes, während die Liebe alles leicht macht und den Menschen in großem Frieden mit Lust und Gesang, mit Psalm und Gotteslob zur Heiligung geleitet. Was der Natur schwer wird, wird der Liebe leicht; sie ist stark und stärker als der Tod, ihr Weg ein Weg der Freuden, ein Gang von Licht zu Licht. Wer daher einem Menschen die Liebe in die Seele geben kann, der löscht die Flamme der Versuchung aus, verleiht dem Kind der Erde Flügel, sich über alle Hindernisse empor zu schwingen, und eine Kraft, das Gute zur Ehre Gottes mit leichtem Muth und sichrer Hand zu thun.

 Die Liebe ist also eine Vollstreckerin des Gesetzes, und zwar eine fröhliche, – mühelose, sie kann, was aller Natur zu schwer ist. Sie vollstreckt nicht allein Gebote wie die: Du sollst nicht ehebrechen, nicht tödten, nicht stehlen. Diese könnten, weil sie dem Wortlaute nach so äußerlich klingen, leichter erscheinen. Sie vollstreckt auch diejenigen Gebote, welche wie das Wort: „Du sollst dich nicht laßen gelüsten,“ schon durch den Ausdruck tief in’s Innere greifen. Sie reinigt das Herz und heiligt die Begier. Man hat die Bemerkung gemacht, daß schon die edlere Geschlechtsliebe in einem Menschen, der zuvor sehr über Anfechtung böser Lüste zu klagen hatte, eine größere Reinheit und Keuschheit der Seele herstellen konnte; während die Angehörigen fürchteten, es werde nun vollends aller fleischlichen Begier Thür und Thor geöffnet werden, geschah das Gegentheil, die edlere natürliche Liebe verscheuchte alle niedrige, thierische Begier. Wenn aber das schon eine richtige Beobachtung ist, wie viel mehr wird die heilige, vom Geiste Gottes gewirkte Bruderliebe die sündliche Begier ertödten können. Es sind ja freilich auch heilige Menschen mit Lüsten und Begierden geplagt, der eine mehr oder weniger als der andre, je nach Temperament und Verhältnissen; aber wenn sich nun auch hie und da in einem Christenmenschen ein solcher geplagter und verunreinigter Zustand ereignet, so hebt diese trübselige Beobachtung die andre doch nicht auf. Es ist nicht ein Mensch, auch nicht ein Christ wie der andre. Während der eine an der Last der Unreinigkeit zu tragen und zu schleppen hat, auf daß seine Liebesglut und Sehnsucht nach reineren Lüsten der Seele groß werde, dient der andere nach Gottes Willen zum Beispiel, an welchem jedermann die reinigende Wirkung der Liebe mit Augen schauen kann. Ein einziges solches Beispiel bestätigt die ganze Lehre des heiligen Paulus, der da sagt, daß auch der Inhalt des neunten und zehnten Gebotes in das Eine Gebot der Liebe zusammengefaßt sei.

 Doch erscheint die Liebe in unserm Texte, wie bereits gesagt, nicht blos als eine fröhliche Vollstreckerin aller Gebote Gottes; sondern sie selbst wird uns als die Fülle des gesammten Gesetzes und aller gesetzlichen Thaten vorgestellt. Wir werden demnächst, und zwar am Sonntag Estomihi, eine andere Stelle des heiligen Paulus, die berühmteste, welche die heilige Schrift von der Liebe enthält, zu lesen und darzulegen haben, weshalb wir uns bei der heutigen Predigt zurückhalten müßen, und nicht zu tief in diejenigen Gedanken hinein gehen dürfen, welche wir dann zu behandeln die volle Aufforderung haben werden. Dennoch aber werden wir es nicht völlig vermeiden können, der Zeit voran zu laufen, oder eine gewisse Aehnlichkeit der Gedanken zuzulaßen. Wie die Texte, so die Vorträge darüber, und wie sich niemand beklagen wird, daß die zwei schönen Stellen von der Liebe am 4. Epiphanien-Sonntage und am Sonntage Estomihi zu schnell aufeinander folgen; so muß es uns auch nicht Last, sondern Lust sein, schnell hintereinander von der Liebe reden zu hören. Welches Thema sollte auch verdienen, so oft und viel wie dieses abgehandelt zu werden! Da ist es denn vor allen Dingen nahe liegend, schon bei der heutigen Epistel auf die Verschiedenheit der Thaten hinzuweisen, je nachdem sie aus dem Geiste der Liebe hervorkommen oder nicht. Man kann einige Thaten leere, andere aber volle Thaten nennen, je nachdem in der Form und Gestalt der einen That die Liebe sich erweist oder nicht. Leer, hohl, eitel, schaal ist eine That, welche die Fülle der Liebe nicht in sich trägt; voll, reich und überfließend wird eine jede durch die vorhandene Liebe. Die Liebe gibt allen Werken ihren Werth, wenn sie da ist; wenn sie aber weg geht, kann man nicht mehr vom Werth der Thaten reden. Wie ein abgeblühter Strauch seine Zeit herum hat und nun allmählich unscheinbar, dürre und nichtig wird, so ist auch eine That ohne Liebe ein vergängliches, der Verwesung und dem Tode geweihtes Gebilde. Eine

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 123. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/130&oldid=- (Version vom 1.8.2018)