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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

walten. Welche der Geist Gottes treibt, die sind Gottes Kinder; ob dich aber der Geist treibt oder nicht, das erkennt man an deiner Macht und Kraft, mit welcher du dich aus dem alten in das neue, heilige Leben begibst. Schon in den Versen vor unsrer Epistel hat der Apostel seinen schönen Lieblingsgedanken auszusprechen begonnen, und dieser sein Gedankengang reicht auch in unsre Epistel herein. „So ziehet nun an, sagt er, als die Auserwähleten Gottes, Heiligen und Geliebeten, herzliches Erbarmen, Freundlichkeit, Demuth, Sanftmuth, Geduld, und vertrage einer den andern, und vergebet euch unter einander, so jemand Klage hat wider den andern; gleichwie Christus euch vergeben hat, also auch ihr.“ Alles, was der Apostel in diesen beiden eben angeführten Versen sagt, haben wir in einem Worte zusammengefaßt, welches, wie mir wenigstens scheint, die Mitte aller der Tugenden genannt werden könnte, welche hier erwähnt sind. Ihr kennet das Wort, da es bereits oben genannt ist, es ist Vertragsamkeit, die Tugend eines guten und segensreichen Auskommens mit den Brüdern. Das Wort selbst ist genommen aus dem 13. Verse, wo es heißt: „Vertrage einer den andern“. Dies Wort kann nichts, anderes meinen, als daß die Christen gegenseitig an einander das tragen sollen, was ihnen schwer wird an einander zu tragen. Es müßen nicht eben immer Fehler und Sünden sein, die dem einen am andern beschwerlich fallen; die verschiedenen eigenthümlichen Natürlichkeiten der Menschen begegnen sich oft mit Widerwillen und stoßen einander ab. Es gibt natürliche Antipathieen, für die man wenig Grund anzugeben hat, zu deren Begründung oft schon alles gesagt ist, was sich sagen läßt, wenn man spricht: Ich kann diese Art nicht vertragen. Diese Antipathieen sind oft so stark, daß die Menschen, welche sie gegen einander hegen, auch nicht mit einander in einen Himmel und in die Nachbarschaft desselbigen ewigen Vaterhauses wandern mögen. Da haben wir nun, meine lieben Brüder, ein Gebiet, auf welchem sich die Kraft des heiligen Geistes reich und mächtig erweisen muß. Ueber diese natürlichen Entfernungen der Seelen muß doch der neue Mensch Herr werden können; ja es darf nicht einmal von einer bloßen Beherrschung der Antipathieen die Rede sein, der Geist Jesu Christi muß mehr erreichen, er muß nah bringen können, was fern war, die widerwärtigen Gegensätze am Ende auch wohl zu angenehmen Verschiedenheiten umwandeln können, und in Liebe verbinden, die sich früher abstießen. Was in dem Worte „vertragen“ im Allgemeinen gesagt ist, das ist in dem benachbartesten Worte desselben Verses insonderheit auf die wirklichen Sünden und sittlichen Fehler bezogen, denn St. Paulus sagt: „Vergebet euch unter einander, so jemand Klage hat wider den andern; gleichwie Christus euch vergeben hat, also auch ihr.“ Es ist ein schönes Wort, welches hier im Griechischen steht; es schließt noch mehr ein als das deutsche vergeben und verzeihen; es ist ein größerer Ueberschwang der Liebe darin angedeutet. Es ist wie wenn ich sagen wollte: Wenn einer von euch am andern Tadel hat, so haltet es ihm zu gut, so begegnet ihm nicht mit der herben Strenge der Gerechtigkeit, sondern mit jener Huld und Güte, die ihr selbst von Christo erfahren habt, welche Christus Jesus in Anbetracht eurer Fehler und Sünden so unabläßig und reichlich erweisen muß. Dies freudige und willige Vergeben und Bedecken der Fehler scheint wie gesagt in die Vertragsamkeit eingeschloßen zu sein, und nur wie ein besonders wichtiger Theil des Ganzen hervorgehoben zu werden. Ebenso scheint es, als ob alle die Tugenden, welche im 12. Verse erwähnt sind, im Dienste der heiligen Vertragsamkeit stünden, wie wenn sie der heilige Apostel nur deshalb voraus erwähnte, weil ohne sie kein Vertragen und Verzeihen statthaben kann. Es sind dieser Tugenden zwei Paare, deren jedes in engem Zusammenschluße daher tritt, und auf die Paare folgt noch eine besondere einzelne Tugend. „Zieht an herzliches Erbarmen, Gütigkeit,“ das ist das erste Paar; „Demuth, Sanftmuth,“ das ist das zweite Paar. Die einzelne Tugend aber heißt „Langmuth“. Ein Herz voll Erbarmen und ein Benehmen voll Gütigkeit gehören zusammen, wie die Wurzel und die duftende Blüthe zu einem Gewächse gehören. Gütigkeit ohne erbarmungsvolles Herz ist unheimliche, grauenvolle Heuchelei, und ein erbarmungsvolles Herz ohne Gütigkeit ist der heilloseste Widerspruch, den es geben kann, eine umgekehrte Heuchelei, da man von innen süß ist, von außen sauer sieht. Die beiden dürfen sicherlich niemals auseinander gerißen werden, sie dürfen nur Hand in Hand erscheinen. Aehnlich ist es mit dem zweiten Paare: Demuth, Sanftmuth. Sanftmuth ohne Demuth ist Schlangenart oder Wolfesart im Schafskleide. Demuth aber ohne Sanftmuth ist ein

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 128. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/135&oldid=- (Version vom 1.8.2018)