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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

3. Und haben alle einerlei geistliche Speise gegeßen; 4. Und haben alle einerlei geistlichen Trank getrunken; sie tranken aber von dem geistlichen Fels, der mit folgte, welcher war Christus. 5. Aber an ihrer vielen hatte Gott kein Wohlgefallen: denn sie sind niedergeschlagen in der Wüste.


 SEptuagesima, die siebenzig Tage der Vorbereitung auf Ostern, haben begonnen; der erste Sonntag unter den neun, welche in diese Zeit fallen, ist gekommen. Zwar sind die Sonntage auch in der kirchlichen Trauerzeit der Fasten Brüder des Ostertages, Freudentage; aber man sieht ihnen dennoch die Zeit an, in deren Mitte sie stehen, und etwas von dem Ernst der Buße, der sich über die Septuagesima hin verbreitet, hat sich auch an die Sonntage gehängt. Es sind Evangelien und Episteln, deren steigender Ernst je näher zum Todestage Christi hin, desto unverhohlener kund gibt, daß sie im Andenken an die Leiden JEsu und an die Buße, die wir Ihm dafür schulden, gewählt sind.

 Willkommen seien uns diese ernsten Evangelien. Wir, die wir nicht wie die Alten alle Tage der Fastenzeit feierlich begehen, bedürfen an dem Fastensonntag den Ernst um so mehr. Wir können auch unsre Herzen um so mehr zum Ernste neigen, als der Ernst keineswegs ein Feind der sonntäglichen und österlichen Freude ist: Ernst und Freude gehen so schön zusammen, sind liebe Genoßen und gesegnete Gäste, die wir nicht vor den Pforten wollen stehen laßen, sondern ihnen lieber zurufen, wie dem Elieser zugerufen wurde: „Kommt herein, ihr Gesegneten des HErrn, warum wollt ihr draußen stehen.“

 Willkommen also sei zuerst dieser Sonntag mit seinem heiligen Lectionenpaare, ja wahrlich einem Paare: denn wenn irgend Evangelium und Epistel eng verbunden zusammen gehen, so kann man es heute sagen. Das Evangelium redet von den Arbeitern im Weinberge und von dem Lohne, den ihnen der HErr des Weinbergs verheißen und gegeben hat. Wer auch die Arbeiter, was auch die Arbeit, was der Lohn sei, von Arbeitern, die während ihrer Arbeit auf einen Lohn hofften, von Arbeit und Lohn, von Gotteslohn und Gnadenlohn redet das Evangelium doch. Die Epistel aber gibt zu dem allgemeinen Gedanken des Evangeliums zwei Beispiele von leuchtender Art. Die Schlußverse des neunten Kapitels zeigen uns einen Arbeiter im Weinberg, den Apostel Paulus; laßen uns einen Blick thun in seine gewaltige Arbeit, in seine Kraftanstrengung, seine Aufopferung, seinen bittern Ernst und Fleiß zur Erreichung seines Zieles, zeigen uns auch Ziel und Lohn, dem er entgegen hofft und entgegenarbeitet. Kann man denn zum Wort des Evangeliums ein paßenderes und ergreifenderes Beispiel wählen, als das Beispiel deßen, der sagen durfte, er habe mehr gearbeitet als die andern alle? Da sieht man also in der stillen, ernsten Septuagesima den HErrn, den Herzog aller Arbeiter in Seinem Weinberg, den Arbeiter, der mit blutigem Schweiß sein Kreuz auf sich nimmt, es auf Golgatha trägt, mit Strömen seines Blutes beträuft, und über der blutsauren Arbeit den Geist aufgibt. Und hinter Ihm her arbeiten die übrigen Arbeiter, kommen die andern Kreuzträger, unter ihnen vorne an St. Paulus. Sie gehen alle unermüdlich dahin in Last und Hitze des Tages, im Schweiß des Angesichtes und vollbringen ihr Werk, bis der Abend kommt und der Schaffner, der einem jeden den Lohn austheilt, der ihm gebührt. Ein herrliches Passionsbild, wohl geeignet über den Pforten dieser ernsten Zeit zu hangen. Aber es ist auch noch ein zweites Beispiel vorhanden, von entgegengesetzter Art und Wirkung. Die ersten Verse des zehnten Kapitels in unsrem Texte zeigen uns nemlich das Volk Israel, wie es unter Gnaden und Wundern die vierzig Jahre in der Wüste hin und her zieht, mühselig, arbeitsvoll, dem Ziele des heiligen Landes entgegen ringt, ohne daß aber denjenigen, die im Mannesalter aus Egypten auszogen, vergönnt gewesen wäre, den Fuß auf Canaans gelobten, verheißungsvollen Boden zu setzen. Sie laufen, aber sie kommen nicht an’s Ziel; sie arbeiten, aber sie bekommen keinen Lohn; sie kämpfen, aber sie haben keinen Theil am Siege und Triumph, keinen an dem Glücke und der Ruhe Canaans. Sie sind Vorbilder des späteren Israels Gottes, des jüdischen Volkes, welches auf Erden nur Mühe und Elend hatte, und des himmlischen Jerusalems verlustig gieng, den König Christus verschmähte, und deshalb sein Reich nicht mit Ihm erbte, Ihm die Dornenkrone der Passion reichte, und damit für sich selber die Passion der ewigen Verdammnis ergriff. So steht neben dem

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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 143. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/150&oldid=- (Version vom 1.8.2018)