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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

seinem Ziele und dem am Ziele winkenden Kleinode unaufhaltsam entgegenstrebt; so wird uns im zweiten Theil der Epistel oder in den ersten fünf Versen des zehnten Kapitels im ersten Corintherbriefe in dem Volke Israel ein Beispiel der entgegengesetzten Art aufgestellt. Das Volk wird durch eine starke Hand Gottes aus Aegypten geführt, unter Gnadenwundern von außerordentlicher Art. Es geht unter Führung und Schutz der Wolkensäule durchs Meer, welches seine Waßer zu beiden Seiten wie Berge und Mauern thürmt. Es wird vierzig Jahre lang mit wunderbarem Manna gespeist, und wenn das Waßer mangelte, eher durch Waßer aus trockenem Felsen wunderbar getränkt, als daß es der Durst plagen durfte. Es mangelte also den Israeliten an Beweisen der göttlichen Gnade und Führung so wenig, daß sie hätten blind und taub und fühllos sein müßen, wenn sie dieselben nicht gemerkt hätten. Trotz aller dieser Zeugnisse der göttlichen Gnade und Fürsorge, trotz so großer, reicher, mächtiger Unterstützung, gelangten sie aber doch nicht an ihr Ziel; alle die in männlichen Jahren aus Egypten gezogen waren und sich bei Kades Barnea geweigert hatten, in das gelobte Land zu dringen, kamen in der Wüste um, und die Wüste wurde ihr Grab. Vierzig Jahre lang waren sie auf der Wanderschaft, aber zum Ziele gelangten sie nicht. Ihre Füße strebten vorwärts, aber das Land ihrer Väter durften sie nicht betreten. Sie waren Wanderer ohne Ziel, Läufer auf der Laufbahn, Kämpfer auf dem Kampfplatz, auf die kein Kleinod wartete; Mühselige und Beladene, für welche keine Erquickung bereitet war. Wie aber kam das alles, warum wurden so außerordentliche Mittel der Gnade fruchtlos an sie gewendet? Warum pilgerten und reisten, kämpften und duldeten sie so gar viel ohne Frucht und ohne Segen? Die Ursache lag lediglich in ihnen. Den Thaten Gottes entsprach kein Glaube, Seinen Führungen kein Gehorsam, Seinen himmlischen Wohlthaten und Wundern kein Dank, Anbetung und Liebe. Ihr vierzigjähriger Zug durch die Wüste geschah blos leiblich, mit den Füßen, während ihr Herz beständig rückwärts gieng, voll Heimwehs nach Egypten, voll Ueberschätzung der dort genoßenen Güter, voll Blindheit gegen alle Güter des Hauses Gottes war. Da sieht man also das reine Gegentheil von jenem Beispiel, das wir in St. Paulo gefunden haben. Er wird nicht blos geführt, sondern er läßt sich auch führen; er wird nicht blos mit Seilen der Liebe gezogen, er läßt sich ziehen, ja er läuft und ringt vorwärts, wie er gezogen wird; die Kinder Israel aber widerstreben dem göttlichen Willen und wollen das Ziel nicht, das ihnen ihre himmlische Berufung vorhält. Da nun Gott den Menschen zu seinem Ziele nicht nöthigt, selbst die Allmacht des heiligen Geistes ihre segensreichen Werke einstellt, wenn die Menschenseele boshaft widerstrebt, so werden die Kinder Israel ein Beispiel, ein redendes warnendes Beispiel, an dem man mit Augen sehen kann, wie man es machen muß, um das Ziel der Vollendung und eines himmlischen Glückes nicht zu finden.

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 Hiebei, meine geliebten Brüder und Schwestern, wollen wir nach Anleitung des Apostels in unserm Texte einen wichtigen Nebengedanken nicht vergeßen. In der Aufzählung der besondern Gnaden, welche den Kindern Israel auf dem Weg durch die Wüste zu Theil wurden, hält nemlich der heilige Apostel ganz offenbar eine solche Weise ein, die an die Sakramente des Neuen Testamentes erinnern muß. Wenn er sagt: „Unsre Väter waren alle unter der Wolke, sie giengen alle durchs Meer und wurden alle auf Mose getauft, in der Wolke und im Meere“; so leuchtet es in die Augen, daß er dabei an die christliche Taufe denkt, daß er in der wunderbaren, kühlenden Wolkensäule der Gegenwart Gottes und in dem ewig denkwürdigen Gang durchs rothe Meer würdige Vorbilder auf das erste Sakrament des Neuen Bundes sah. Und wenn er dann fort fährt: „Sie aßen alle einerlei geistliche Speise und tranken alle einerlei geistlichen Trank“; so weist er mit diesen Worten auf die geistliche Speise des Mannas und auf den geistlichen Trank vom Waßer, das in der Wüste aus dem trocknen Felsen sprang. Er nennt das Manna eine geistliche Speise, weil es eine Wunderwirkung des heiligen Geistes und kein Naturprodukt war; und das Waßer aus dem Fels nennt er einen geistlichen Trank, weil auch dies Waßer kein gewöhnliches war, sondern der Sohn Gottes, unser HErr Christus, die Israeliten durch die Wüste geleitete, und weil nicht der natürliche Fels, sondern Er, der ewige Fels des Vertrauens, das wunderbare Waßer gab. Speise und Trank aber weisen sicherlich auf nichts anderes hin, als auf das Sakrament des Altars. Wie die Kinder Israel so große

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 147. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/154&oldid=- (Version vom 1.8.2018)