Seite:Wilhelm Löhe - Epistel-Postille.pdf/155

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Wunder ohne Frucht erfuhren, ja mitten unter Wundern doch verloren giengen, so kann man im Neuen Testamente unter den sich täglich ereignenden größeren Wundern der beiden Sakramente dahin gehen und doch verloren werden. Und die alttestamentlichen Beispiele sollen das neutestamentliche Israel warnen vor einem ähnlichen Schicksal und einer endlichen viel größeren Enttäuschung und Seelennoth. Es ist wahr, meine geliebten Brüder, daß unser Heil nicht bei uns steht und daß es weit mehr auf Gottes Thaten und Führungen, als auf unser Verhalten ankommt, wenn wir selig werden sollen. Die Seelsorger haben auch gerade bei den gewißenhaftesten Gliedern der Gemeinden sehr häufig die Gelegenheit vor einer Ueberschätzung des eignen innern Lebens, der eignen geistlichen Erfahrungen und Zustände zu warnen. Manche Christen dringen mit einer Art von Gesetzlichkeit auf inneres Leben und quälen sich und andre, wenn sie die Stufe und Vollendung bei sich nicht finden können, die sie suchen. Solche Warnehmungen dienen ihnen nicht blos zur Demüthigung und zum klein werden, sondern zur Verzweiflung an ihrer Seligkeit. Da gilt es dann predigen, daß Gott größer ist, als unser Herz, und daß wir in den Sakramenten theure Pfänder Seiner Barmherzigkeit, Gnade und Langmuth und Seiner endlichen Aushülfe zum ewigen Leben haben. Man kann in solchen Fällen oft nicht genug auf die Allgenugsamkeit des Verdienstes JEsu Christi hinweisen, weil alle Augenblicke das Herz im Gefühle seiner Sündentiefen zur Verzweiflung überspringen will. Was sollte man da thun, wenn man nicht auf die Sakramente und die Verheißung Gottes hinweisen könnte? Und noch ein anderer Fall! Womit sollten sich denn die Seelsorger rücksichtlich ihrer meisten Pfarrkinder trösten? Der äußerlich erkennbare Zustand der meisten ist ja ein so armer und geringer, so wenig geistliche Frucht und Segen der Gnadenmittel erscheint an ihnen, daß man ihrethalben, zumal im Falle des Todes verzagen müßte, wenn man nicht in den Gnadenmitteln so kräftige Zeichen, der unaussprechlichen Liebe Gottes und solche Pfänder für die geheime innere Wirkung des heiligen Geistes an den Seelen hätte, daß man sich an denselben aufrichten könnte. Je länger man im Amte steht, desto mehr hofft man auf Gott und Seine heiligen Gnadenmittel, desto weniger hat man Lust, dem Menschen je nach seiner kenntlichen Vollendung das Glück des ewigen Lebens zu- oder abzusprechen. Gottes Gnadenwerke werden einem um so größer und lieber, je weniger Zuversicht man aus dem Verhalten des Menschen nehmen kann. Aber so wahr das ist, und so viel sicherer man auf Gottes unaussprechliche Gnade und deren gewaltige Mittel, als auf die erscheinende Stufe des inwendigen Lebens und der Heiligung vertrauen kann: so gewis ist es doch, daß der Mensch selbst alle Ursache hat, sein inneres und äußeres Verhalten und den Gang seiner Heiligung zu prüfen und in Acht zu nehmen. Oder warum sind denn trotz aller Gnaden und Wunder so viele tausend Israeliten in der Wüste niedergeschlagen und begraben, als weil ihr persönliches Verhalten Gott nicht gefiel? Und warum sind von den vielen tausend Israeliten in den Zeiten des Neuen Testamentes so gar wenige selig geworden? Hat es ihnen an Gnaden gefehlt? Hat es für sie keinen Aufgang aus der Höhe, keinen Schein der Sonne, die JEsus Christus heißt, keine Predigt, keine Einladung zur Gottseligkeit gegeben? Gewis wird das niemand sagen können! Aber gewollt haben sie nicht, wie ihre Väter, so auch sie, und wie deshalb über sie JEsus Christus am Anfang Seiner Todeswoche geweint hat, weil sie Seiner gnädigen Lockung nicht folgten, so findet auch jetzt noch jeder wahre Freund Israels die selbst verschuldete Blindheit und Verhärtung des auserwählten Volkes beklagens- und beweinenswerth. Wie aber Israel, so auch wir. Wir dürfen in der That alle die Frage an uns stellen, ob nicht der dunkelrothe blutige Strom, auf dem das Israel der neutestamentlichen Zeit zur ewigen Verdammnis bisher gefahren ist, auch das Fahrwaßer ist, welches uns mit fort nimmt und in dasselbe ewige Elend befördert. Es liegt so viel an unsrem eignen Verhalten, daß keiner sich auf die himmlische Berufung und die Gnadenmittel verlaßen kann und darf, der mit Willen auf der verkehrten Bahn verharrt.

.

 Als M. Luther gestorben war, da war unter den lutherischen Theologen, wie man sagt, die Eintracht gestorben. Mancherlei Streitigkeiten erhuben sich, und unter andern erhub sich ein Streit über den Werth der guten Werke. Georg Major stellte im Jahre 1551 in Uebereinstimmung mit dem Interim und der Lehre Melanchthons den Satz auf: Die guten Werke seien nothwendig zur Seligkeit. Nicolaus

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 148. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/155&oldid=- (Version vom 1.8.2018)