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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

unter einen Feigenbaum, voll Thränen und Sehnsucht, und seine ganze Seele rief nach Vergebung der Sünden und Freiheit. Da hörte er auf einmal eine singende Stimme, so wie die Knaben und Mädchen Psalmen recitativ zu singen pflegten, die rief ihm zu und wiederholte immer: „Nimm und lies, nimm und lies.“ Da er nun in der Geschichte des heiligen Antonius auch etwas von einer solchen himmlischen Stimme gehört hatte, so merkte er, daß auch ihm eine himmlische Stimme zurief, er sprang auf, gieng zu seinem Freunde Alypius, bei dessen Sitze er die Briefe Pauli hatte liegen laßen. Er nahm das Buch, griff hinein, um zu lesen, wo ers träfe, und was kam ihm da in seine Finger, was las er? Er traf und las den Schluß der heutigen Adventsepistel Röm. 13, 13. 14: „Laßet uns ehrbarlich wandeln, als am Tage, nicht in Freßen und Saufen, nicht in Kammern und Unzucht, nicht in Hader und Neid; sondern ziehet an den HErrn Jesum Christ, und wartet des Leibes, doch also, daß er nicht geil werde.“ Augustinus war später kein Freund jenes frevlen Beginnens, da man in allen möglichen Fällen des Lebens dem schweigsamen HErrn im Himmel dadurch eine direkte Antwort und Anleitung abzugewinnen sucht, daß man die Schrift notzüchtigt, in die Bibel greift und die nächste beste Stelle als göttliches Orakel behandelt, aber im Garten zu Mailand, da war es etwas anderes, das „Nimm und lies,“ hatte ihn ermächtigt, und der Erfolg bewies es, daß er recht gethan. „Ich wollte nicht weiter lesen und brauchte es auch nicht,“ schreibt er selbst, „denn mit jenen Versen drang ein klares Licht in meine Seele, das mich fest und sicher machte meines Weges, alle Finsternisse meines zwiegespaltnen Herzens und meiner Unentschloßenheit flohen dahin.“ – So wirkte der Posaunenton der heutigen Epistel auf Augustinus, der noch ein ungetaufter Heide war; eine solche Kraft lag und liegt in den Worten des heiligen Apostels, daß sie, obwol St. Paulus selber schon viele Jahrhunderte entschlafen ist, dennoch lebendig und mächtig in die Seelen dringen, und die Ketten der Heiden sprengen können, mit denen sie der Teufel an die Werke der Nacht gebunden hält. Ungetaufte Heiden erfahren solches. Die Römer aber, an welche der Brief geschrieben ist, aus dem St. Augustinus und wir heute gelesen haben, sind getauft und gläubig, daß, wie man Kapitel 1, 8 liest, ihr Glaube in der ganzen Welt verkündigt und besprochen wird, und dennoch muß man ihnen schreiben: Die Zeit sei da, vom Schlafe aufzustehen, die finsteren Werke, die Eß- und Trinkgelage, die frevlen Unzuchtssünden sammt Neid und Haß aufzugeben, und die Waffen des Lichtes anzuziehen. Man kann also nicht blos ein Mitglied der Gemeinde von Neuendettelsau sein, nicht blos einen armen Pfarrer des 19ten Jahrhunderts Jahre lang predigen hören, in der Gemeinschaft einer armen versunkenen Gemeinde dieser Zeit zu Gottes Tische gehen, und fort und fort in all den abscheulichen verdammten Fleischessünden leben, von denen der Apostel schreibt. Nein, man kann ein Römer sein, ein Römer der ersten Zeit, ein Genoße jener Männer, deren Namen im 16. Kapitel des Briefes Pauli aufgeschrieben stehen. Man kann ein Glied der berühmtesten Gemeinde der Welt mitten im Strome des heiligen Geistes und einer wunderbar gesegneten Gemeinschaft sein, und noch mit den heillosen Sünden kämpfen, welche der Heide Augustinus durch die Kraft der apostolischen Worte noch vor seiner Taufe überwand. O HErr GOtt, da stehe ich, und lese nun schon zum einundzwanzigsten Male unter euch die Epistel, die St. Augustinum und am Ende vielleicht auch die Römer befreite von ihren Fleischesketten. Wie ein Mann mit einem Brecheisen steht und Steine losmachen will, einen Bau zerstören, so stehe ich und bewege den gewaltigen, mächtigen, göttlichen Hebel der heutigen Epistel schon 21 Jahre lang, und kann den Bau des Teufels und die Sünden eurer Seelen nicht zerstören, welche der Apostel straft! Was ist denn das, daß mir der gewaltige Hebel, die eiserne mächtige Brechstange hier zu einer puren Nadel oder einem Federmeßer verkehrt wird, damit man keine Steine bricht! An welchem Stein wird mir denn all meine Mühe zu Schanden, und schier mein heiliges Gotteswort? Ich wills euch sagen, daß euch die Ohren gellen: der Stein, der stärker scheint, als Gottes Wort, ist eurer Seelen Trägheit; und der schwere Schlaf, der euch betrügt am späten Morgen, als wäre die Stunde noch nicht vorhanden aufzustehen.

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 Man predigt so viel gegen die Lüste, gegen die wirklichen Lüste, gegen die Erblust; aber man sollte die Trägheit, die selbst ein Teil der Erbsünde und nicht der kleinste von ihr ist, öfter, anhaltender und

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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 009. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/16&oldid=- (Version vom 1.8.2018)