Seite:Wilhelm Löhe - Epistel-Postille.pdf/167

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Am Sonntage Estomihi.

1 Cor. 13, 1–13.
1. Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete und hätte der Liebe nicht; so wäre ich ein tönendes Erz, oder eine klingende Schelle. 2. Und wenn ich weißagen könnte und wüßte alle Geheimnisse und alle Erkenntnis, und hätte allen Glauben, also daß ich Berge versetzte, und hätte der Liebe nicht; so wäre ich nichts. 3. Und wenn ich alle meine Habe den Armen gäbe, und ließe meinen Leib brennen, und hätte der Liebe nicht; so wäre mir es nichts nütze. 4. Die Liebe ist langmüthig und freundlich, die Liebe eifert nicht, die Liebe treibt nicht Muthwillen, sie blähet sich nicht, 5. Sie stellet sich nicht ungeberdig, sie suchet nicht das Ihre, sie läßt sich nicht erbittern, sie trachtet nicht nach Schaden, 6. Sie freuet sich nicht der Ungerechtigkeit, sie freuet sich aber der Wahrheit. 7. Sie verträget alles, sie glaubet alles, sie hoffet alles, sie duldet alles. 8. Die Liebe höret nimmer auf, so doch die Weißagungen aufhören werden und die Sprachen aufhören werden, und das Erkenntnis aufhören wird. 9. Denn unser Wißen ist Stückwerk, und unser Weißagen ist Stückwerk. 10. Wenn aber kommen wird das Vollkommene, so wird das Stückwerk aufhören. 11. Da ich ein Kind war, da redete ich wie ein Kind und war klug wie ein Kind und hatte kindische Anschläge; da ich aber ein Mann ward, that ich ab, was kindisch war. 12. Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunkeln Wort, dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich es stückweise, dann aber werde ich es erkennen, gleichwie ich erkannt bin. 13. Nun aber bleibet Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größeste unter ihnen.

 WIr stehen am Eingang der abendländischen Fastenzeit. Wenn das Morgenland seine Septuagesima feiert und im Abendlande der morgenländische Brauch wenigstens in einem gewissen Maße nachklingt, so daß auch unsere Gedanken sich von Septuagesima an bereits dem anhaltenderen Gedächtnis der Leiden JEsu zuwenden; so ist doch die abendländische Fastenzeit, die Quadragesima, unsrer Seele durch langen Brauch näher und es erfaßt uns mit deren Beginn das Gedächtnis der Leiden JEsu mit besonderer Kraft und Macht. Und nun also stehen wir vor den Pforten der Quadragesima. Der nächste Mittwoch ist der Aschermittwoch und unter den vierzig ernsten Tagen der erste, der alte Bußtag, ja der erste einer vierzigtägigen Bußzeit, denn die alte Kirche feierte ja das Gedächtnis der Leiden JEsu mit Buße. Da wirkt denn die nahe Quadragesima auch auf den vorausgehenden Sonntag Estomihi ein und man merkt es den beiden Texten dieses Sonntags gar wohl an, daß die große Trauerzeit des Kirchenjahres vorhanden ist. Das Evangelium erzählt uns zuerst von der letzten Reise JEsu nach Jerusalem, wie der HErr noch jenseit des Jordans die Jünger bei Seite genommen und ihnen eine sehr eingehende Vorherverkündigung Seines Leidens und Sterbens gehalten habe. Im zweiten Theile aber ist von dem Blinden zu Jericho die Rede, deßen Geschichte uns, namentlich mit der vorausgegangenen Leidensverkündigung JEsu im Zusammenhang, fast den Gedanken aufdringt, daß auch wir um offene Augen für die Schönheit der Leiden JEsu beten sollten. So mahnt uns also das Evangelium durch die Leidensverkündigung an die nahende Gedächtniszeit der Leiden, und durch die Geschichte des Bettlers bei Jericho kann das nothwendige Gebet um offne Augen für die Leiden JEsu erweckt werden. Die Epistel aber ist nicht minder geeignet, auf die Quadragesima vorzubereiten. Sie enthält die berühmte Predigt St. Pauli von der Liebe und gibt damit der Leidensverkündigung JEsu im Evangelium den rechten tiefen Sinn. Was ist die Leidensgeschichte Jesu, wenn nicht eine Geschichte der Liebe JEsu zu Seinem Volke und ein so großes und erhabenes Beispiel zu der Predigt Pauli von der Liebe, daß man fast sagen könnte, der Apostel habe die hohe Liebe JEsu beschreiben

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 160. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/167&oldid=- (Version vom 1.8.2018)