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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

vorkommen konnten. So sagt ja z. B. der HErr selbst, es würden an Seinem großen Tage Leute vor Ihm erscheinen, die sich gegen das Verdammungsurtheil, das Er ihnen sprechen werde, auf die großen Wunder und Glaubensthaten berufen würden, die sie in Seinem Namen gethan hätten. „Haben wir nicht in Deinem Namen Teufel ausgetrieben und viele Thaten gethan?“ werden sie sagen. Da sieht man also den Haushalt Gottes und wie in demselben die Gaben so mannigfach und reich vertheilt sind; aber man wird auch mistrauisch gegen die bloße Gabe, man sieht, daß in den Gaben keine Versiegelung zum ewigen Leben liegt, daß sie im Gegentheil zu Mühlsteinen werden können, die der HErr an den Hals so mancher hängt, um sie in’s Meer der Verdammnis einzusenken, wo es am tiefsten ist. „Auch wenn ich allen Glauben habe, bis zum Berge versetzen, ruft der Apostel, ich habe aber die Liebe nicht, so bin ich nichts.“ Nicht die Gabe ist nichts, nicht der Glaube, nicht die Erkenntnis, nicht die Weißagung, nicht die Sprachengabe, die sind und bleiben große Gaben zur Verherrlichung des HErrn; aber der Mensch ist nichts, der alle diese Gaben hätte, die Liebe aber nicht besäße.

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 Es ist eine Steigerung in der Rede des heiligen Paulus, er geht von dem Kleineren zum Größeren, vom Zungenreden zur Weißagung, Erkenntnis und zum Wunderglauben. Die Gabe der Zungen und deren Uebung ist an und für sich selbst groß und wunderbar; eine Aufhebung innerer Schranken des Denkens und Erkennens, eine Macht über Verschiedenheiten in den Vorstellungen, Bildern und Gedanken der Seele, eine, wie es scheint, entzückte Zusammenfaßung und Vereinigung deßen, was Gott seit Babels Zeiten in den Gedanken der Menschen getrennt hat. Aber bei dieser Gabe läßt sich die Abwesenheit der Liebe am ersten erklären, weil ihr Nutzen für andre nicht sehr groß ist. Dagegen die Weißagung, die Erkenntnis, der Wunderglaube sind sämmtlich im Dienste der Gemeinde herrliche Früchte des von Christo gestifteten göttlichen Lebens. In Anbetracht ihrer ist es weit schwerer, die Liebe wegzudenken. Es wird ja durch diese Gaben der Name des HErrn verherrlicht und der Gemeinde genützt. Dennoch aber zeigt der Zusammenhang unsers Textes, daß die Liebe mangeln kann, während diese Gaben im Schwange gehen, daß man also auch ohne Liebe nützen und bei großem gestifteten Segen selbst verwerflich werden kann. Die Selbstsucht, die mit Gottes Gaben prangt und Gott die Glorie derselben raubt, kann allem Segen und Nutzen, den wir stiften, den Werth nehmen und uns bettelarm vor Gott machen, während andre von uns den seligsten Nutzen genießen. Die Welt kann uns über unsrem Grabe danken, während Gott unsre Seele wegen Mangel der Liebe verdammt hat. Erschrecklicher Gedanke, der aber noch greller und mächtiger im letzten Verse des ersten Theils unsres Textes hervortritt. „Wenn ich alle meine Habe zur Speise der Armen verwendete, und wenn ich meinen Leib hingäbe, daß ich verbrannt würde, die Liebe aber nicht habe, so nützt es mir nicht.“ Das ist der letzte Vers des ersten Theiles. Also wenn einer seine ganze Habe zur Speisung der Armen hingibt und seinen Leib den Flammen hingibt um Christi willen, aus Liebe zu Ihm und zu den Brüdern, so nützt es ihm etwas, so hat er davon seinen Gnadenlohn, so wird ihn Der dafür segnen, der keinen Becher Waßers unbelohnt laßen will und eine Krone der Gerechtigkeit den Märtyrern reicht, welche Glauben halten, den Kampf zu Ende kämpfen, den Lauf vollenden. Dagegen aber kann einer Alles, was er hat, für die Armen opfern und bis an’s Ende Beständigkeit üben, in Flammen und harten Todesarten, und dennoch ohne Gnadenlohn, ohne Erhörung des tausendfachen „Vergelt’s Gott“ der Armen, ohne Anerkennung seines Blutvergießens und letzten Seufzers, ohne Wohlgefallen des ewigen Richters dahingehen. Der Mangel an Liebe nimmt selbst der freiwilligen Armuth und dem Märtyrertode allen Werth und kann Arbeit und Kampf des reichsten Lebens zu einer Eitelkeit, zu einer hohlen Schaale, zu einem puren Nichts machen. Die Liebe ist des Gesetzes Erfüllung, die Liebe ist aller Thaten Werth, die Liebe ist der Edelstein, alles andre ist nur Faßung; wo die Liebe mangelt, werden alle Thaten und Werke zu bloßem Heuchelschein. Eine erschreckende Wahrheit! Wenn die zuerst genannten außerordentlichen Gaben ohne die Liebe keinen Werth haben, so könnte man sagen, sie kämen von außen her, sie wüchsen nicht aus dem Willen und Herzen des Menschen hervor. Dagegen aber die aufopfernde Barmherzigkeit, die freiwillige Armuth, die Hingabe in die Flammen des Märtyrertodes

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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 163. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/170&oldid=- (Version vom 1.8.2018)