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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

seine Kenntnis der Umstände, unter welchen geschrieben worden ist, reicht nicht immer aus, aufzufinden, was die heiligen Schriftsteller in dem oder jenem Worte den Gemeinden an Wohlthat reichen wollen. Dazu kommt bei unsrer Stelle noch die Schwierigkeit, den Gedankengang herauszufinden, welchen der Apostel bei Aufzählung der einzelnen Eigenschaften der Liebe verfolgt. Nachbarlich schließt sich zuweilen ein Paar von den Eigenschaften zusammen; warum sie aber alle gerade so und nicht anders geordnet sind, das zu sagen wage ich nicht, da ich mich fürchte, die einzelnen Ausdrücke durch Biegen und Beugen meiner Auffaßung gehorsamer zu machen.

 Bei alle dem aber leuchtet der zweite Theil unsres Textes dennoch so hell und klar, daß man der Liebe Eigenschaft und Art sich selbst zur Prüfung gar wohl erkennen kann. Bei allen Eigenschaften, welche aufgezählt werden, sieht man die Liebe in einem Kampfe gegenüber der fleischlichen Reizung. Alles, was gesagt wird, erscheint als Verleugnung der Natur, als Sieg und Triumph des göttlichen Geistes über Hindernisse. Nicht wie der Mensch sich im Verhältnis zu andern gewöhnlich zeigt und gibt, nicht wie sich gegenseitig die Kinder der Welt ansehen und zu entschuldigen pflegen, sondern ganz anders benimmt sich die Liebe. Einer verzeiht dem andern in der Welt den Mangel an Langmuth und Güte, Neid, Muthwillen und all das Gegentheil von demjenigen, was St. Paulus predigt; allzu natürlich findet ein Jeder das Hervortreten der selbstsüchtigen Natur, als daß er nur den Anspruch machen möchte, sein Nachbar sollte davon frei sein. St. Paulus aber lehrt uns die Vollkommenheit des neuen, in uns gepflanzten göttlichen Lebens; er stellt keine gesetzlichen Ansprüche, sondern er verweist auf die himmlischen Wirkungen und mühelosen Früchte der Liebe, die aus dem Heiligtum stammt. Und wie sich zur Frühlingszeit die Blumen entfalten, eine nach der andern, so sehen wir im Texte einen ganzen Garten blühender duftender Himmelsblumen der heiligen Liebe. Da blüht wie auf einem Stengel Langmuth und Freundlichkeit. Die Selbstsucht ist langmüthig und freundlich bis zur Erreichung ihrer Zwecke, dann stellt sich Ungeduld, unsanftes, mürrisches Wesen ein und rechtfertigt sich aus allgemein verständlichen, niederträchtigen Gründen. Es ist euch das allen bekannt. An zweiter Stelle sehen wir Neidlosigkeit, denn die Liebe eifert nicht, d. i. sie neidet nicht. Der Neid ist eine gallichte, elende Herzens- und Geistesplage für alle, bei denen er sich meldet; aber die Liebe ist glücklich, denn sie neidet nicht, ist zufrieden mit ihrem reichen Schatze und in ihrem überfließenden Wohlwollen, kraft deßen sie allen gönnen kann und gönnt, nicht blos was sie haben, sondern mehr als das. Am dritten Orte findet sich eine dreifache Blüthe der wahren Liebe. Die Liebe treibt nicht Muthwillen, wie Luther übersetzt, sie blähet sich nicht, sie stellt sich nicht ungeberdig. Statt des Muthwillens, dem sich die rohe ungezähmte Natur so gerne hingibt, hat sie Haltung, statt des aufgeblasenen Hochmuths jene Demuth, die ihrer Mängel und Versehen eingedenk ist, und statt des ungezogenen, unanständigen, ungeberdigen Wesens, mit dem der Mensch bei jedem Widerstand, den er gegen seine Meinung und Neigung findet, sich so sehr versündigt, weiß sie nicht allein das Rechte und Gute, sondern auch das Schickliche und Schöne im Benehmen festzuhalten; bescheidene Haltung, bußfertige Demuth, heilige Betrachtung aller Grenzen des Schicklichen und Schönen und eben damit jene wunderbare liebliche Herzensbildung, die Gott und Menschen wohl gefällt, sind ihre Zeichen, wo überall sie einhertritt.

 An vierter Stelle steht wieder eine einsame aber große, herrlich duftende Blüthe, würdig mit der ersten einsam stehenden herrlichen Blume, mit der Neidlosigkeit verglichen zu werden. Man könnte sogar sagen, sie übertreffe die Neidlosigkeit an Schönheit, sie sei Königin im Garten, sie beherrsche alles Andre und gebe allem Andern, was der Apostel erwähnt, den gemeinsamen Sinn und Grundton. Es ist die Uneigennützigkeit, welche der Apostel mit den Worten darstellt: „Die Liebe suchet nicht das Ihre.“ Wir meinen nicht blos jene gewöhnliche Uneigennützigkeit, kraft welcher der Mensch in Sachen des zeitlichen Besitzes unschuldige Hände bewahrt, sondern jene, die in keinem Sinne das Ihre sucht, nicht ihre Lust, nicht ihre Anerkennung, nicht ihre Ehre, nicht ihre Freiheit, überhaupt nichts, was blos ihr gehört; sie sucht, was des Andern ist, und eben deshalb ist sie langmüthig und freundlich und neidlos, voll Haltung und Demuth und Schicklichkeit; eben deshalb wird es ihr auch leicht, sich in all den Tugenden zu bewähren,

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 165. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/172&oldid=- (Version vom 1.8.2018)