Seite:Wilhelm Löhe - Epistel-Postille.pdf/174

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

 Dieser Gedanke beschäftigt den heiligen Apostel in unsrem Texte so sehr, daß er zwischen der Liebe und den andern obenerwähnten herrlichen Gaben der Weißagung, des Zungenredens und der Erkenntnis eine Vergleichung anstellt, deren Ziel und Ende nichts andres ist, als den Sieg der Liebe über alle Gaben darzulegen. Die Weißagungen hören auf, denn sie werden erfüllt. Die Zungen kommen einmal doch zum Schweigen, wenn wir dahin kommen, wo wir alle die gleiche Sprache reden. Auch hört diese Weise der verständigen Erkenntnis auf, die wir jetzt pflegen, und macht der Erkenntnis des Schauens Raum. Alle diesseitige Erkenntnis und Weißagung ist unvollkommen, weil stückweise; aber wir werden zu einer vollendeten Erkenntnis und Einsicht in Gottes Wege kommen, dann erstirbt das Unvollkommene im Vollkommenen. Alle diesseitige Erkenntnis und Rede gleicht dem Lallen des Kindes, der Denk- und Schlußweise der Jugend, dagegen aber sollen wir für eine himmlische Mannheit erzogen werden, und wird nun dies Ziel unsrer Erziehung erreicht sein, dann werden auch unsre Gedanken und unsre Worte in ganz andrer Kraft und Fülle gehen. Hier nehmen wir all’ unsre Weisheit aus der Schöpfung Gottes oder aus Gnadenmitteln, wie sie uns der HErr für diese Welt bestellt hat; aber es kommen ewige Zeiten, da wir in Gottes Angesicht Alles schauen und erkennen werden, wie wir erkannt sind. Da hört dann die schwache stückweise Erkenntnis auf, wie auch die Weißagungen aufhören und die Zungen schweigen. Die Liebe aber wird alle diese und überhaupt alle möglichen Veränderungen überleben und mit uns gleichen Wesens in die Ewigkeit gehen. Wen sie hier geliebt, den liebt sie auch dort, sie wechselt die Gegenstände ihrer Neigung nicht, sie ist eines getreuen Gedächtnisses und vergißt nach dem Eintritt in’s Paradies über der Glorie des HErrn um so weniger die geliebten Brüder auf Erden, als der HErr Selbst, den sie dann von Angesicht schaut, ihrer in unaussprechlicher göttlicher Liebe gedenkt. Sie behält also mitten im Lichte und in den Flammen himmlischer Liebe Gottes die Bruderliebe bei und übt alle Tugenden derselben, wie sie sie hier geübt hat, in unveränderlicher Geduld und Barmherzigkeit. Wie sie in Gott dem HErrn alle Herrlichkeit väterlicher Liebe erkennt und von Ihm her erfährt, so erkennt sie in dem verklärten Erlöser den ewigen König und Hohenpriester, in Seinem Regimente und der Uebung Seines Priestertums die größte Fülle und das heiligste Vorbild ewiger Bruderliebe und vereinigt sich mit Ihm zu einer vollkommnen Fortsetzung aller der Liebesarbeit, die schon hier auf Erden begonnen hat. Wir können nicht in das ewige Heiligtum schauen, wir sind nicht wie Paulus entzückt bis in den dritten Himmel, wir leben noch in irdischer Dunkelheit; aber wenn wir sehen könnten, wenn der Vorhang fiele, so würden wir Christum sehen, wie Er unter den Schaaren unsrer miterlösten bereits vollendeten Brüder unser Gedächtnis feiert und als König und Hoherpriester die Werke himmlischer Bruderliebe übt; wir würden dort die Liebe sehen, wie sie hier gewesen, und die Einheit der Kirche dort und hier würde uns schon dadurch überzeugend entgegentreten, daß wir beide von derselbigen Liebe durchdrungen sehen würden. Das aber, meine lieben Brüder, dient ja alles dem Zweck, den der Apostel in unserm Texte erreichen will, nemlich die Liebe zu preisen. Erst sie gibt allen Gaben und Werken den Werth, wie uns der erste Theil des Textes zeigte; sie allein geht im Glanze der mannigfaltigsten selbstsuchtlosen Tugenden, wie uns der zweite Theil gezeigt hat; sie ist unsterblich wie die Seele selber, und verändert auch beim Uebergang in die Ewigkeit ihre Weise nicht, gleich der Raupe, die sich zum Schmetterling verkehrt. Damit ist so viel zu Lob und Preis der Liebe gesagt, daß wir völlig vorbereitet sind, den Schluß der Rede St. Pauli von der Liebe aufzufaßen.

.

 Nun aber bleibet Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei, spricht er; die Liebe aber ist unter ihnen die größeste.“ So schließt er, und wer in aller Welt kann den Schluß für einen Fehlschluß halten, der auf so gewaltigen Voraussetzungen ruht. Der Glaube wird zum Schauen und stirbt in seiner Verwandelung; die Hoffnung wird zum Haben und erlischt, indem sie den Sieg und das Kleinod gewinnt; die Liebe aber ist das ewige Leben selber, das unaufhörlich bei uns bleibet, nachdem wir es einmal empfangen haben; sie erblaßt nicht im Todesthal, sie erstirbt nicht im Anschauen Gottes; sie erweist sich als Gottes Bild im Menschen und in ihr finden wir die Wiederherstellung alles desjenigen, was uns die Sünde entwendet hat. So groß ist die Liebe. Wenn daher der Apostel Paulus sie über alle andern Gaben

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 167. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/174&oldid=- (Version vom 1.8.2018)