Seite:Wilhelm Löhe - Epistel-Postille.pdf/188

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

welche Gebote wir euch gegeben haben, durch den HErrn JEsus.“ So viel also der Apostel an der thessalonichischen Gemeinde zu rühmen gefunden hat, so war ihr Zustand doch nicht, wie er hätte sein sollen, und wie er hätte sein müßen, wenn er den apostolischen Vorschriften hätte entsprechen sollen. Das „wie“ eines gottwohlgefälligen Wandels war ihnen bekannt geworden, allen standen die Unterweisungen und Gebote, welche ihnen der Apostel gegeben hatte, in gutem Andenken, dem Wißen aber entsprach das Leben nicht. Es gieng der Gemeinde zu Thessalonich, wie auch unsern gegenwärtigen Gemeinden; wie man wandeln soll, ist eben so schnell gelernt als gesagt, der Gehorsam aber folgt langsam und unvollständig nach.

 Wie vielmal geschieht es, daß man einem Menschen die Unterweisung zu einem beßeren Leben gibt, und die Antwort bekommt: „Ich weiß es schon,“ wie wenn man sich mit dem Wißen deßen was man soll, für den Ungehorsam gegen das Wißen entschuldigen könnte, wie wenn nicht vielmehr das Wißen die Schuld des Ungehorsams vermehrte. Aber so ist der Mensch, er weiß was er soll, und scheut doch die Erinnerung daran, wenn er nicht thut was er soll. Sein eignes Gewißen sagt ihm, daß er seiner Erkenntnis nicht treu ist, und mit der ihm gegebenen Einsicht nicht Haus hält; erinnert ihn aber ein Andrer, so wird ihm des Mahnens zu viel; von innen und außen gefaßt, stellt sich sein ungebrochenes Herz ungebärdig, und schlägt wider die Vermahnung aus. Glücklich in solchem Fall, wenn dann diejenigen, die ihn ermahnen, Liebe und Geduld der Liebe genug haben, um nicht abzulaßen mit Vermahnen, sondern das gute Werk auch wider Willen deßen fortsetzen, der sein so bedürftig ist! Ja wahrlich glücklich ein solcher, denn die wenigsten Menschen haben Muth und Beständigkeit der Liebe genug, um einem Bruder wider Willen zu dienen, und immer das Nöthige zu sagen, wenn es dafür Undank und Verdruß zu ernten gibt. Möchte sich ein jeder unter uns von der bösen, trägen, ungezogenen Art erretten laßen, und es seinen Freunden leicht machen, ihn zu ermahnen. Wir sollen ja völliger werden in unsrem geistigen und inwendigen Leben; vorwärts sollen wir gehen, dem Ziel der Vollendung entgegen, niemals rückwärts. Wie können wir das ohne treue Hilfe und Vermahnung von außen, da uns innerlich so oftmals das Bleigewicht unsrer eignen Trägheit niederzieht in thatlose Ruhe, und uns das rückwärts gehen so oft näher liegt, als der Gang vorwärts. Gesegnet sei derjenige, der uns nicht los läßt, bis wir das Gute thun, und der HErr sei sein reicher Vergelter! Wehe aber uns, wenn man uns gehen läßt, wie wir’s gerne wollen, wenn uns niemand bespricht, niemand hindert, niemand zum Guten reizt, jedermann uns thut, nicht wie wir bedürfen, sondern wie wir verdienen, und wir unsre verkehrten Wege ohne alle Einsprache und Ermahnung gehen dürfen! Wahrlich das ist ein ernster und ohne Zweifel auch paßender Eingang, nicht blos des Textes, sondern auch der Predigt. Ein Krebsschade vieler Seelen ist damit berührt, ein Bedürfnis Aller geoffenbart, nemlich vorwärts zu gehen und völliger zu werden, und zu dem Endzwecke treue ermahnende Freunde zu haben. –

 Durch die allgemeine Ermahnung vorwärts zu gehen, völliger zu werden, bereitet sich der Apostel den Weg zu den besonderen Ermahnungen. Wer die Ermahnung im Allgemeinen nicht verträgt, wem es verdrießlich ist, zum Guten und vorwärts gehen ermuntert zu werden, der wird um so mehr seine Ohren abwenden und zuhalten, wenn die Ermahnung anfängt in’s Einzelne zu gehen, und die Wunden und Schäden blos gelegt werden, um deren willen sein Gang kein Gang zur Vollendung werden kann. Daher sucht eben St. Paulus offne Herzen durch Vorausschickung der allgemeinen Ermahnung. Es kann doch eigentlich vernünftigermaßen niemand übel berührt werden, wenn er im Allgemeinen ermahnt wird völliger zu werden. Das sollen, das brauchen ja alle: was aber alle brauchen, das kann auch der Einzelne leicht als sein Bedürfnis zugeben. Gibt man aber im Allgemeinen die Notwendigkeit zu, beßer zu werden, so muß man irgendwo die Beßerung anfangen, und zwar da, wo es am nöthigsten ist, wo uns unsre größten Sünden und Mängel drücken; man wird ja im Allgemeinen nicht beßer werden, wenn man es im Einzelnen nicht wird, und man sollte daher allerdings aus der zugestandenen Nothwendigkeit sich im Allgemeinen zu beßern, auch gern den Schluß und Entschluß ableiten, da anzufangen, wo es am nöthigsten ist. Das aber verleihe der HErr nun insonderheit uns, wenn wir nach dem allgemeinen Eingang des Apostels, zu den beiden einzelnen Ermahnungen des Textes übergehen. –


Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 181. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/188&oldid=- (Version vom 1.8.2018)