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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

unsre Frage gibt uns der Text selber; denn der Apostel fährt im Eingang, und zwar im zweiten Verse des Kapitels, in folgender Weise fort zu reden: „So seid nun Gottes Nachfolger, als die lieben Kinder, und wandelt in der Liebe, gleichwie auch Christus uns geliebt, und sich selbst für uns dargegeben hat, zur Gabe und Opfer, Gott zum Geruche des Wohlgefallens“. Bei diesem letzten Verse könnte man nun wohl sagen: es sei viel mehr zur Nachfolge Christi, als zur Nachfolge Gottes aufgefordert; aber es erscheint uns eben Gott selbst in Christo JEsu, und es wird uns in dem eingebornen Sohne klar, was das sei, darinnen wir dem Vater nachahmen dürfen. Es ist die Liebe zu denen, welche der Vater liebt und der Sohn. Nicht hat der Vater und der Sohn und wir einerlei Liebeserweisungen. Denn dem Vater wird geopfert, ER aber opfert nicht und liebt dennoch das menschliche Geschlecht; – der Sohn opfert sich dem Vater zur Gabe und zum Opfer, und Sein Opfer steigt auf wie ein süßer Gott wohlgefälliger Geruch; darinnen erweist ER die Liebe zu denen, die Sein Vater liebt; – wir hingegen können weder wie der Vater lieben, von dem alle Dinge sind, noch wie der Sohn, durch den alle Dinge sind, dennoch aber sollen wir lieben wie beide, und wenn wir auch nicht Gabe und Opfer werden können für unsre Brüder, so sollen wir uns dennoch für andere thätig und leidend hingeben und in Liebe und aus Liebe zu den Brüdern auch Kreuz und Tod nicht scheuen. Da wird uns nun auf diese Weise und durch diesen Eingang Grund und Uebergang so schön für den besondern Inhalt dieser Epistel gelegt und gezeigt. Der Gehorsam gegen den besondern Inhalt erscheint als Liebe und diese Liebe als Nachahmung Gottes, und ob wir uns wohl bei diesem Eingange länger nicht aufhalten können, so wollen wir doch nicht vergeßen, im weitern Verlauf des Textes bei jeder Einzelheit uns wieder zu besinnen, wie sich darin Liebe und Nachfolge Gottes und Christi zeigt.

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 Wir stehen bei dem dritten und vierten Verse unsers Textes. Diese sind es, in welchen die entschiedenste Aehnlichkeit mit der vorigen Epistel zu Tage tritt. Die Summe der beiden Verse ist wie die der vorigen Epistel zusammengefaßt, wenn wir sagen, es sei der Uebertretung des sechsten und siebenten Gebotes gewehrt. Dabei aber ist das, was von der Uebertretung des sechsten Gebotes gesagt wird, weitläufiger und mehr in’s Einzelne gehend, als der gleichartige Inhalt der vorigen Epistel. Und zwar ist die Deutung des sechsten Gebotes auf Lebensgebiete verfolgt, für welche sich das Fleisch im Menschen, um nicht zu sagen im Christen, gerne die Freiheit vorbehält, wie das alle Tage an allen Orten und Enden zu sehen ist. Laßt uns einmal mit vorläufiger Uebergehung deßen, was in unserm Texte das siebente Gebot betrifft, die apostolischen Worte etwas genauer betrachten. M. Luther übersetzt die Verse, bei denen wir stehen, vortrefflich in folgender Weise: „Hurerei aber und alle Unreinigkeit, oder Geiz, laßet nicht von euch gesagt werden, wie den Heiligen zusteht, auch schandbare Worte und Narrentheidinge oder Scherz, welche euch nicht ziemen, sondern vielmehr Danksagung.“ Im erstern Verse ist der Wortlaut des Textes etwas anders. Es heißt nicht: „Hurerei aber und alle Unreinigkeit, oder Geiz, laßet nicht von euch gesagt werden,“ sondern: „Sie sollen unter euch nicht einmal genannt werden“. Nun ist es aber offenbar, daß der Apostel nicht der Meinung sein kann, es sollen die Worte „Hurerei, Unreinigkeit, Habsucht“ in der Christenheit nicht gebraucht werden, auch nicht, wo es gilt, vorhandene Sünden zu strafen. Wäre das der Sinn, so würde der Apostel selbst in dieser und in andern Stellen wider sein Gebot und seine Regel handeln. Daher können die Worte keinen andern Sinn haben, als den: Hurerei, Unreinigkeit und Habsucht sollen so wenig unter euch vorkommen, daß man auch nicht einmal Grund und Ursache findet, sie zu nennen. Dies aber ist mit schärfern und eingehendern Worten nichts anderes, als was Luther mit allgemeinerem Ausdruck in der Stelle seiner Uebersetzung andeutet: „Laßet nicht von euch gesagt werden“. Die Forderung des Apostels ist eine gewaltige. Welche heutige Gemeinde wird von sich sagen können, sie lebe in der Erfüllung dieser apostolischen Worte? Alle Stände unsrer Gemeinden pflegen von bösem Gewißen in Betreff des sechsten Gebotes innerlich angenagt und zerfreßen zu sein; beide Geschlechter in allen Ständen haben gleiche Beichten von sich abzulegen, die äußre Bildung oder Rohheit macht hierin wenig Unterschied; ein und dieselbe Last drückt Alle. Böse Beispiele

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 189. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/197&oldid=- (Version vom 1.8.2018)