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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

aus der blutigen Seitenwunde ihres einigen Erlösers und aus den Verheißungen kommen, die allein dem Glauben an das theure Blut JEsu Christi zugeeignet werden. Da ist es, wie wenn der heilige Apostel durch das Wort von der Gnade die Christen auf den galiläischen Höhen zusammenbrächte, wie auf Bergen der Freiheit der Gotteskinder, damit sie dortselbst gespeist werden nach dem Evangelio des heutigen Tages, und zwar nicht mit Speise, die vergänglich ist, sondern mit dem Brote, das vom Himmel kommt, und gibt der Welt das Leben. –

 Wir dürfen uns übrigens auch noch eine besondere Stelle unsres Textes fastenmäßig deuten, zumal wenn wir uns wieder an den Grundsatz erinnert haben, daß die Episteln oft dieselbigen Spuren im Leben der Gläubigen aufzeichnen, welche man für’s Leben des HErrn in den Evangelien gefunden hat. Neben dem leidenden HErrn erscheint die leidende Gemeinde. Sehen wir daher im heutigen Evangelium JEsum in der Osternähe, d. i. in der Leidensnähe, so erinnert uns der 29. Vers in unsrer Epistel an die Leiden der Gemeinde Christi, die sie von den Juden auszustehen hatte. „Gleichwie zu jener Zeit, sagt der Apostel, der nach dem Fleisch geboren war, verfolgte den, der nach dem Geist geboren war, also gehet es jetzt auch.“ Hier stehen wir nun auch geradezu bei demjenigen Verse, der uns für den ganzen heutigen epistolischen Text den Gesichtspunkt eröffnet.

 Der ganze Text zeigt das Judentum und Christentum im Kampf und weißagt dem letzteren den Sieg. Kampf mit dem Judentum und Sieg über dasselbe ist das große Thema des Apostels in der heutigen Epistel. Dieses Thema handelt der Apostel in der Weise ab, daß er zuerst den ganzen Gegensatz des Judentums und Christentums und den endlichen Sieg des letzteren in Vorbildern zeigt, dann aber vom 28. Vers an die Anwendung mit eigentlichen Worten macht, nach hergestelltem Verständnis der Vorbilder auf’s neue zu denselben zurückkehrt und der jüdischen Richtung unter den damals lebenden Christen in leicht verständlichen Worten des Alten Testamentes Tod und Ende verkündigt.

 Um nun, meine geliebten Brüder, den göttlichen Text mit der nöthigen menschlichen Erläuterung zu versehen, wollen wir zu allererst den Gegensatz der Juden und Heidenchristen im apostolischen Zeitalter darlegen, dann wollen wir zweitens eine kurze Belehrung über die Vorbilder des Alten Testamentes geben, drittens die vorbildlichen Geschichten, auf welche unser Text Rücksicht nimmt, uns in Erinnerung bringen, und viertens die Deutung der Geschichten auf Kampf und Sieg des Christentums in’s Auge faßen.


 Es ist eine bekannte Sache, daß sehr frühe in der apostolischen Kirche ein Zwiespalt über die Art und Weise entstand, wie die Heiden sollten selig und des Verdienstes JEsu Christi theilhaftig werden. Alle waren einig, daß alle Heiden, alle Völker an Christo JEsu und Seinem Heile Theil bekommen sollten. Ob aber dazu der pure Glaube an Christum hinreiche, oder ob die Heiden, die selig werden wollten, zuvor Juden werden und das alttestamentliche Gesetz erfüllen müßten, das war die Frage. Die Pharisäer unter den Christen vertheidigten das letztere; dagegen aber hatte Gott dem heiligen Petrus und dem heiligen Jacobus, vielen Jüngern unter den Juden in Cyrene, der großen neuentstandenen Gemeinde zu Antiochien in Syrien, endlich dem heiligen Barnabas und Paulus, Licht und Ueberzeugung gegeben, daß die Heiden ohne des Gesetzes Werke, ohne Beschneidung, Ceremonien und eignes Verdienst, allein durch den Glauben an unsern HErrn JEsum Christum könnten und sollten selig werden. Die erste Kirchenversammlung, von den Aposteln selbst zu Jerusalem im Jahre 45 gehalten, entschied sich zwar ganz für die freiere Richtung Pauli und der Heidenchristen, und man hätte denken sollen, daß mit dieser Entscheidung für immer allen alles klar geworden wäre. Allein dem war nicht so. Die apostolische Einmüthigkeit konnte in vielen Gliedern der judenchristlichen Gemeinden den Sieg über die angestammte jüdische Anmaßung nicht gewinnen. Je größer und erstaunlicher die Erfolge des heiligen Paulus unter den Heiden waren, je mehr Heiden auf seinen Ruf herzu kamen, um allein aus Glauben selig zu werden, desto unruhiger wurden die gesetzeseifrigen Judenchristen, und sie hielten es am Ende für ein Gott wohlgefälliges Werk, ihre Sendlinge in alle heidenchristlichen Gemeinden Pauli eindringen und die Gläubigen

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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 198. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/206&oldid=- (Version vom 1.8.2018)