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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

ganz offenbar zuerst von den Geboten und Satzungen, dann aber vom Gesetzbuch redet, also einmal den Theil des Buches, dann aber wieder das ganze Buch unter dem Worte „Gesetz“ begreift. Allein St. Paulus hat dazu das offenbarste und anerkannteste Recht. Auch keiner von den falschen Lehrern wird ihn bei diesem doppelten Gebrauch getadelt, und ihm denselben zum Vorwurf gemacht haben. Jedermann mußte zugestehen, daß die Gebote und Satzungen der fünf Bücher Mosis das große Ansehn bei den Juden nur als Theil des ganzen Buches genießen konnten, in welchem sie zu finden waren. Nicht hatte das Ganze sein Ansehen vom Theil, das Buch nicht von den Satzungen, sondern der Theil vom Ganzen, die Satzungen vom Buche. Daher konnte sich der Apostel allerdings mit vollem Rechte auf das Buch berufen, wenn ein Theil desselben misverstanden wurde, und die richtige Erkenntnis einer Stelle des göttlichen Wortes zur Bestrafung und Verbeßerung einer misverstandenen andern Stelle anwenden. Es kann ja die Schrift nicht gebrochen werden, sich auch nicht selbst widersprechen, sondern ein Theil muß mit dem andern, das Ganze mit allen Theilen im innigsten Einklang stehen.

 So vollkommenes Recht nun aber auch der Apostel hat, eine Stelle des göttlichen Buches zur Bestrafung und Correktion der falschen Auslegung einer andern anzuwenden; so ungemein und absonderlich ist dennoch der Weg, welchen er einschlägt. Er nimmt seinen Gegenbeweis gegen die Gesetzesanwendung seiner Gegner nicht aus den jedermann klaren Worten Mosis, sondern aus dem heimlichen Sinn einer Stelle, den ohne besondere Offenbarung Gottes niemand finden konnte. Er beweist aus den Vorbildern des Alten Testamentes gegen einen falsch gesetzlichen Grundsatz der Judenchristen. Wir könnten und dürften so nicht beweisen; wenn wir auch den typischen Sinn einer Schriftstelle fänden, so würden wir doch ohne besondere Offenbarung oder Schriftgründe unserer Deutung nicht sicher sein, wir könnten keinen Beweis aus derselben führen. Der Apostel kann, was wir weder können noch dürfen; er kann aus Typen und Vorbildern beweisen vermöge des HErrn, des Geistes, der in ihm ist; wir können ihm fröhlich nachtreten, ohne je selbstständig einen Weg der typischen Beweisführung einzuschlagen.

 Hiebei, meine lieben Brüder, wird es sich nun wohl schicken, ein weniges von den Vorbildern des Alten Testamentes zu reden. Gott sind alle Seine Werke bewußt, vom Anfang der Welt her. Er weiß was Er thun will bis an’s Ende, und weil Er dies weiß, so hat Er es Seinen Heiligen von Anfang der Welt her mitgetheilt, und auf mancherlei Weise voraus gesagt und voraus angedeutet, was da kommen soll. Wenn am Ende alle Wege Gottes abgeschloßen sind, werden Gottes weißagende Worte und Zeichen zu glänzenden Beweisen, daß Gott die Welt nach Plan regiert und alles auf vorbedachten Wegen zu dem vorbedachten Ziele geführt hat. Da wird alsdann der Ruhm und Preis Seiner Wahrhaftigkeit und Treue groß sein, und Sein Name wird genannt werden „Amen“; es werden alle Gottesverheißungen Ja sein in Christo und Amen in Ihm. Der HErr hat aber, wie gesagt, nicht blos in Worten geweißagt, sondern auch in Vorbildern. Der große Immanuel, der da kommen sollte, dazu Sein Reich und deßen Ergehen sind wie Berge gewesen, die aus der Ewigkeit her, bevor sie selbst gesehen wurden, ihre Schattenriße in die Welt herein fallen ließen. So wunderbar das ist, so wahr ist es doch. Bei der Sintfluth, beim Durchgang durch das rothe Meer hatte der Geist des HErrn Seine Gedanken bereits an die Taufe, die JEsus Christus so lange nachher einsetzen sollte; die Arche war Ihm selbst ein Bild der Kirche. Hier sind Aehnlichkeiten, die man findet, sobald sie einem gesagt sind, auf die aber ohne besondere göttliche Leitung und Offenbarung kein menschlicher Verstand gekommen sein würde. Solcher Vorbilder gibt es viele, und wahrscheinlich viel mehr, als wir denken. Es ist, wie wenn eine Zeit auf die andere deuten, und alle mit einander auf das Ende und die Herrlichkeit des ewigen Lebens hinweisen sollten. Die heimliche Weisheit Gottes kann sich durch den Geist des HErrn je länger je mehr klar und offenbar darlegen, und das Ende wird uns vielleicht Dinge enthüllen, über die wir theils freuden-, theils schreckenvoll staunen werden. Bis uns aber alles klar werden wird, glauben wir eine mannichfaltig vorhandene vorbedeutende Weisheit Gottes; aus Furcht aber unsre Einfälle und Gedanken für Gottes Wort und Weisheit zu nehmen, und unsere arme Seele zu täuschen, nehmen wir keine typische Deutung einer Schriftstelle an, sie sei denn

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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 200. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/208&oldid=- (Version vom 1.8.2018)