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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

vor dem Manne fordert, der hier das Wort führt. Es kommt also bei unserm Texte alles darauf hinaus, daß wir die Rede des heiligen Paulus als Gottes eigene Rede, und die geschichtlichen Personen, von denen die Sprache ist, als von Gott berufene Vorbilder und Ideenträger künftiger Zeiten ansehen.


 Brüder, man sagt so gerne, die Episteln der Sonn- und Festtage seien meist aus den zweiten Theilen der apostolischen Briefe genommen, und enthalten für gewöhnlich nichts anderes, als eitel Vermahnungen zu einem christlichen Leben; die Grundlehren der christlichen Kirche, namentlich die der Rechtfertigung allein aus Glauben, käme nicht vor. Daß alles das, so wie es gesagt zu werden pflegt, nicht wahr ist, könnte man leicht beweisen. Noch haben wir erst das Viertel eines Kirchenjahres hinter uns, und wie manche Texte giengen geradezu entweder auf die Lehre von der Rechtfertigung oder auf Lehren, welche es ohne diese gar nicht geben würde, welche ohne sie gar nicht bestehen könnten. Wenn einer aber ein starkes Beispiel davon haben will, so darf er ja nur ganz einfach in den heutigen epistolischen Text sehen. Die Männer und Zeiten, von welchen die Textwahl stammt, hatten in der That noch kein Interesse, die Lehre von der Rechtfertigung aus Glauben zu leugnen oder zu verdunkeln, wenn es auch ihre besondere Gabe nicht gewesen ist, so davon zu reden, wie es als besondere Gnadengabe dem Manne Luther verliehen ward. Man darf dabei auch nicht vergeßen, daß die Lectionen für eine Kirche ausgesucht wurden, die bereits christlich war und welcher man daher auch die Gnade der Rechtfertigung zuschrieb, von der man glaubte hoffen zu können, daß sie in dieser Lehre und Gnade fest geworden sei. Da war denn der Fortschritt zur Heiligung zu thun, und zu diesem Fortschritt insonderheit zu ermahnen. Indes stimme ich dennoch vollkommen mit den Verächtern der alten Textwahl in dem Einen zusammen, daß man von Rechtfertigung und Gerechtigkeit des Glaubens nicht oft genug lesen und reden kann. Es kann uns gar nicht oft genug gesagt werden, wie vieles und großes für uns auf die Lehre von der Rechtfertigung und auf die Frucht derselben, die Rechtfertigung selbst ankommt. Wir können Lehre und Sache nicht einen Augenblick entbehren, nicht während unseres Lebens, am allerwenigsten aber, wenn wir sterben, nicht wenn wir bei Bewußtsein sind, und nicht wenn wir in Sinnlosigkeit und Befangenheit der Seele dahin sinken müßen, ohne uns helfen zu können. Es ist niemand selig, als dem Gott seine Missethat nicht zurechnet, und den er aus Gnaden von seinen Sünden und der Irrfahrt seines Lebens frei spricht; es kann uns daher allerdings der große Trost der Heidenchristen, die Seligkeit aus Gnaden allein, nicht oft und hoch genug angepriesen, gepredigt und dargelegt werden. Dazu kommt es noch, daß in der That nichts leichter vergeßen wird, und nichts schneller in Dunkelheit zurück fällt, als gerade diese Lehre. Ehe man sich’s versieht, hat einem der Satan den Trost der Rechtfertigung genommen und einem dafür wieder die Angst und sklavische Pein der eigenen Gerechtigkeit gegeben, durch welche nicht allein aller Friede Gottes unmöglich, sondern auch alle Kraft zur Heiligung genommen wird. Wer heilig werden soll, der bedarf vor allen Dingen einen Frieden, der höher ist als alle Vernunft, und die unzerstörbare Ruhe in den Wunden JEsu, welche die Verzweiflung verhindert, Muth und Streben aufrecht erhält, wenn man den Weg zur Heiligung nicht anders als durch Straucheln, Fallen und Auferstehen wandeln kann. Es mag dabei ganz wohl zuzugeben sein, daß mancher Mensch die Ruhe und den Frieden der Rechtfertigung besaß und besitzt, ohne sich richtig und in der lichten Weise der lutherischen Kirche über sie ausdrücken zu können. Es ist etwas anderes gerechtfertigt sein und von der Rechtfertigung nachdem Lichte und Maße Martin Luther’s reden. Wenn man diesen Unterschied nicht machen würde, was für ein Urtheil müßte man über viele Menschen vor Luther haben, die das Kennzeichen der Kinder Gottes tragen und doch so vielfach unrichtig und unklar von der Rechtfertigung geredet oder geschrieben haben? Ihre Liebe, ihre Andacht, ihre Hingebung an JEsum Christum, ihr hoher Friede im Leben und Sterben verwehrt uns das Verwerfungsurtheil, während wir ihnen doch nicht nachreden und nachschreiben dürfen. Gewis würden sie den Frieden und die Liebe, die von ihnen strahlt, gar nicht gehabt haben, wenn sie Gott in Seinem Heiligtume nicht gerechtfertigt hätte, wenn die Gnade der Rechtfertigung nicht in still verborgenem

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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 204. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/212&oldid=- (Version vom 1.8.2018)