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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

an die Leiden JEsu trieft, so führt uns auch der epistolische Text tief hinein in Betrachtungen, welche allein in dem Tode JEsu gründen. Da sehen wir unsern HErrn nicht bloß als den Unschuldigen und Reinen, wie im Evangelium, nicht bloß in majestätischer Ruhe durch den Haß Seiner Feinde hingehen; sondern da sehen wir Ihn angethan mit der hohenpriesterlichen Würde, und es erzählen uns die beiden ersten Verse des Textes Seinen Eingang in die vollkommene Hütte, Er wird uns dargestellt, wie Er eingeht mit Seinem eigenen Blute. Da haben wir ja, meine lieben Brüder, nicht bloß die volle Erinnerung an Blut, Leiden und Tod Christi, sondern zu gleicher Zeit die Darlegung ihrer großen Wirksamkeit bei Gott, die Erzählung, wie sie geltend gemacht werden im Himmel. In den zwei folgenden Versen des Textes schließt sich die Darlegung der seligen Folgen aller Leiden Christi auf Erden an. Und wie das Blut im ersten Theile des Textes im Himmel eine ewige Erlösung wirkt, so wird uns nun gezeigt, welch’ einen Frieden und große Freiheit dasselbe wunderbare Mittel auf Erden in den Herzen und Gewißen der Gläubigen hervorbringt. Endlich verkündigt uns der letzte Vers nicht bloß, was das Blut des HErrn im Himmel wirkt, sondern wie die Gläubigen durch Kraft des Blutes selbst in den Himmel gehen und das verheißene Erbe erlangen. Da werden uns also die herrlichen Folgen und Wirkungen der Passion gezeigt, auf daß wir desto würdiger werden, die Passion betrachtend selbst zu durchleben. Es wird uns das Auge geöffnet und dazu das Herz; und so gehen wir, angeregt zu desto größerer und tieferer Feier der heiligen Leiden JEsu, dem nahenden ernsten Schluße der Passionszeit entgegen.

 Es ist euch, meine lieben Brüder, eine bekannte Sache, daß der wunderschöne Brief an die Ebräer nichts anders ist, als ein ernstes Warnungsschreiben an Judenchristen, die in der Gefahr standen, vom Christentum wieder umzukehren zum Judentum und den einigen Erlöser ihrer Seele auf’s neue zu kreuzigen. Ihnen in der furchtbaren Versuchung zu dienen, schrieb der vom heiligen Geiste angeregte und regierte Verfaßer, Paulus oder wer es sonst gewesen sein mag, den köstlichen Brief, in welchem das alttestamentliche Wesen mit dem neutestamentlichen und die hervorragendsten Persönlichkeiten des alten Bundes mit dem HErrn Christo in einer solchen Weise verglichen werden, daß man meinen sollte, auch blinde Augen hätten den himmlischen Glanz JEsu Christi und Seines Reiches erkennen, auch sehr angefochtene Herzen aus aller Versuchung gerückt werden müßen. Insonderheit wird auch der alttestamentliche Hohepriester mit der neutestamentlichen Würde JEsu Christi, unsres Hohenpriesters, verglichen, und unser heutiger Text enthält aus dieser Vergleichung ein wunderschönes Stück voll Licht und Lehre über die Wirkung der hohenpriesterlichen Geschäfte JEsu Christi im Himmel und auf Erden. Wie bereits bemerkt wurde, bilden die zwei ersten Verse des Textes einen zusammengehörigen Theil desselben, den laßt uns nun mit Aufmerksamkeit betrachten.

 Christus ist kommen, sagt der heilige Schriftsteller, daß Er sei ein Hohenpriester der zukünftigen Güter.“ Christus ist hier nicht bloß mit dem Hohenpriester des Alten Testamentes verglichen, sondern Er ist geradezu ein Hohenpriester genannt. Die Rede ist nicht ein Gleichnis, sondern viel eher könnte man sagen, der alttestamentliche Hohepriester sei ein Gleichnis und Abbild JEsu Christi gewesen. Christus ist der wahre Hohepriester und heißt in unserm Texte ein Hoherpriester der zukünftigen Güter. Das kann nichts anders heißen als: Er ist ein Hohepriester, der uns die zukünftigen Güter, die Güter der zukünftigen Welt verschafft. Der alttestamentliche Hohepriester war rein eine Vorbedeutung Christi und schattete die zukünftigen Güter ab, ohne daß er es vermochte, sie durch seinen Dienst zu geben; in Christo aber besitzen wir Alles, und Seiner heiligen und mächtigen Wirkung verdanken wir es, daß wir, obwohl noch hier in der Zeit wandelnd, bereits einen ewigen Besitz haben und genießen. Da wird uns also in den ersten Worten des Textes die Frucht der Arbeit JEsu Christi bereits im Allgemeinen vor die Augen gemalt. – Der Hohepriester aber muß ein Heiligtum haben, in welchem er Priesteramts pflegt und den Segen der zukünftigen Güter den Seinen verschaffen kann. Die Schrift bezeugt es ja ausdrücklich, daß die Hütte des Alten Testamentes, so wie der Tempel, der hernach an ihre Stelle trat, nicht Urbilder, sondern Vorbilder einer himmlischen Hütte und eines ewigen Tempels gewesen sind, so daß wir uns also den ewigen Hohenpriester

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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 206. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/214&oldid=- (Version vom 1.8.2018)