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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

wir zu wißen brauchen, um Ruhe zu haben, weil sich damit ewiges Leben, ewige Seligkeit und ewige Verheißung ausspricht. – Dies ewige Erbe sollen aber die Berufenen empfangen. Es versteht sich dabei von selbst, daß das verheißene, ewige Erbe nicht jedem zu Theil wird, der mit dem äußeren Ohre die Berufung hört. Es gibt eben zweierlei Berufene, solche, die dem Rufe folgen, und solche, die ihm widerstreben. Die ersteren sind es, von denen hier die Rede ist. Dem Berufe folgen, was soll das heißen? Kann man dem Berufe zum ewigen Erbe folgen, ohne daß man die Welt verläßt und ihre Gesinnung, von der man weggerufen wird, und darf man die Welt verlaßen, ohne in die streitende Kirche einzugehen und in die Gemeinschaft ihrer Gnadenmittel zu treten? Das verheißene, ewige Erbe ist allerdings das Gegentheil der Welt und Weltfreude; diese ist der Ausgangspunkt, jenes ist der Eingangsort. Wer aber von dem einen ausgehen und zu dem andern eingehen soll, der muß auch den Weg nicht scheuen, der zwischen beiden mitten inne liegt; wer zu einem Ziele berufen ist, ist damit auch zu dem Wege berufen und zu den Mitteln, welche zum Wege fördern. Nun ist der Weg zu dem verheißenen, ewigen Erbe nichts anderes, als die streitende Kirche, die Mittel aber sind Wort und Sakrament, durch welche uns die Kraft des Blutes JEsu und das Blut selbst mitgetheilt wird. So ist es also offenbar, daß die berufenen Erben der ewigen Verheißung sich mit der sichtbaren, streitenden Kirche verbinden, ihre Sakramente genießen, bei ihr und ihren Segnungen aushalten, hoffen und glauben müßen, daß ihnen auf diesem Wege das Ziel und Kleinod nicht entgehen werde. Das aber war gerade die Sache der ebräischen Christen nicht; nicht wollten sie bei der Kirche aushalten, deren Gestalt ihnen zu ärmlich und gering erschien, deren Wachstum sich größtentheils unter denjenigen Schichten der Gesellschaft erzeigte, die von keiner hervorragenden Bedeutung waren. Da glänzte der Tempel auf Moria mit seinem goldenen Dach, seinen Opfern und Gottesdiensten, seinen Hohenpriestern und Priestern viel augenfälliger, und schien einen viel angenehmeren und herrlicheren Weg zu dem verheißenen ewigen Erbe zu eröffnen. Aber diese verkehrte, bloß menschliche Anschauung, da man gering achtet, was groß ist vor Gott, und hangen bleibt an dem, was Gott verlaßen will, hindert und hält auf, so daß man nicht erreichen kann, was man erreichen soll, und den Weg verfehlt, der zu der ewigen Heimat fördert. Dort sieht man die Majestät des Mittlers und Hohenpriesters des Neuen Testamentes, dort hört man Sein redendes Blut, dort ist der Gottesdienst und die Herrlichkeit, von welcher auch der Tempel Salomonis in seiner schönsten Glorie nur ein mattes Bild ist, dort belohnt sich die Treue, mit welcher man ausgehalten hat, und das ist eben die Meinung St. Pauli, daß man Treue halten und den von Gott verordneten Weg des Heiles nicht verlaßen solle, sondern ausharren, bis uns die ewige Herrlichkeit erscheint.

 Ihr erinnert euch, meine lieben Brüder, daß schon am Schluße der vorigen Predigt eine gleichartige für den heutigen Sonntag angekündigt wurde. Vielleicht wird der euch nunmehr vorgelegte Inhalt der heutigen Epistel nicht auf den ersten Blick als sehr gleichartig erscheinen. Indes ein wenig Besinnen und Nachdenken wird euch doch dazu verhelfen, den Zusammenhang zu sehen. Von der Rechtfertigung haben wir vor acht Tagen gesprochen, heute aber von dem Hohenpriestertum Christi im Himmel, von der Wirkung desselben in den Herzen und Gewißen der noch lebenden Gläubigen und von seiner Macht und Kraft denselben bei ihrem Abschied zu dem ewigen Erbe des Himmels zu verhelfen. Ist’s denn nun schwer, die Rechtfertigung und das Hohenpriestertum Christi in eine Verbindung zu setzen?

 Wenn wir unsern ewigen Hohenpriester, Mittler und Fürsprecher nicht hätten und Sein redendes Blut, woher sollte uns alsdann die Rechtfertigung kommen? Wird auch der ewige Vater irgend einen armen Sünder frei sprechen von Schuld und Strafe, wenn nicht Einer vorhanden ist, der in Kraft stellvertretender Leiden auf Schonung und Freispruch des Sünders anträgt? Die Rechtfertigung ist geradezu eine Frucht des Hohenpriestertums JEsu. Sie kommt auch in unserm Texte vor, wenn auch nicht unter dem Ausdruck „rechtfertigen“, so doch unter einem verwandten. Heißt es doch im zweiten Theile unseres Textes, daß uns das Blut JEsu Christi reinigen könne von den todten Werken. In diesem „reinigen“ liegt doch jedenfalls die Vergebung mit eingeschloßen. Die Vergebung aber ist ein so großer Theil der Rechtfertigung

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 212. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/220&oldid=- (Version vom 1.8.2018)