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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

wieder aufwärts, von einer Höhe durch ein tiefes Thal wieder in die Höhe, vom Oelberg herunter, hinüber wo die Berge Zion liegen und nordwestlich von Jerusalem der kleine Hügel Golgatha, der berühmter geworden ist, als die höchsten Bergesspitzen der ganzen Welt. Warum sage ich das, meine Lieben? Wie kommt mir’s, dies heutige Evangelium so geographisch anzusehen? Darauf könnte ich antworten: Weil die geographische Betrachtung der Geschichte so schön entspricht. Von einer Höhe der Anerkennung, des Hosianna’s, des Psalmengesangs, zum mörderischen Geschrei der Juden am Charfreitagsmorgen, führt den HErrn Sein Lebensweg hinab, hinab zum Kreuz, hinab zum Tode und Grabe. Von da an aber geht es wieder wie aus tiefen Thalen aufwärts, zum Auferstehungsmorgen, zum Preis der Engel, zum Hallelujah der Himmel über die vollbrachte und gelungene Erlösung, über die Niederlage unseres Erb- und Erzfeindes, des Todes. Da geht es doch offenbar von einer Höhe zu der andern, obschon durch grausige tiefe Thale. Da stehen wir also heute auf des Oelbergs Höhe, von dem es abwärts geht zu Leidenstiefen, und unsere Seele freut sich, da drüben hinter acht Tagen das Ende aller Noth unseres HErrn, die Glorie der Auferstehung zu sehen. Der gehen wir durch die Betrachtung der Erlösungsleiden entgegen. Doch, meine lieben Brüder, ist damit die Deutung meiner geographischen Evangelienbetrachtung noch nicht am Ende, die heutige Epistel leitet uns noch zu einer andern an. So wie der letzte Adventsonntag, der Sonntag vor Weihnachten eine überaus liebliche, dem kommenden Feste entsprechende Epistel hat, jene gepriesene vom Frieden, der höher ist, als alle Vernunft; so geht auch der heutige epistolische Text dem Ostertage sehr entsprechend voran, majestätisch und groß wie nur irgend eine Epistel sein kann, bei lichter, klarer, tiefer Einfalt. Ihr erinnert euch, daß wir am vorigen Donnerstage das Fest der Empfängnis Christi, wenn auch nicht nach Würden, doch so gefeiert haben, wie es uns unter den gegenwärtigen Umständen möglich war. Bei diesem Gedanken der Menschwerdung und Empfängnis, der höher ist, als der Oelberg, steht der Anfang unserer Epistel, so weit sie nemlich von unserm HErrn redet, stille. Ha, was für eine Höhe, Himmelshöhe ist es, auf der wir durch Betrachtung des apostolischen Wortes, wie es im 6. Vers zu lesen ist, stehen! Von dieser Höhe führt uns aber der Text hinab bis zur tiefsten Erniedrigung unsers HErrn. Also welch eine Tiefe, was für ein jähes, grausiges Thal hinab! Himmelshöhe, Todestiefe! Aber sie führt auch wieder hinauf, diese große Epistel; sie zeigt uns die Erhöhung JEsu und die Anbetung, welche Ihm von allen Creaturen im Himmel, auf Erden und unter der Erden zu Theil werden muß. Was für eine Höhe, zu der kein menschlicher Fuß, ja kaum der menschliche Gedanke emporklimmt! Himmelshöhe, Erniedrigung bis zum Tode, ja bis zum Tode am Kreuze; Erhöhung bis zum Throne Gottes, bis zum Stuhle, an deßen Boden alles feiernd und andächtig auf dem Angesicht liegt und ruft JEsus, JEsus! Von diesem Textesinhalt kann man doch wirklich die Geschichte des heutigen Evangeliums und der nächsten acht Tage als Vorbild nehmen, da findet die geographische Betrachtung, wie ich sie oben nannte, eine gewaltige, große Anwendung. So stimmen uns die beiden heutigen Texte vortrefflich zusammen, und wir können nun desto lieber zur Betrachtung unserer Epistel selber gehen, die doch recht passionsmäßig und zugleich recht sonntäglich und österlich ist.

 Unser Text, meine lieben Brüder, hat einen Eingang im fünften Verse. Dann erzählt er vom sechsten bis zum achten Verse die Geschichte der Erniedrigung des HErrn, und lehrt uns dieselbe recht betrachten. Endlich kommt vom neunten bis zum eilften Verse die feiernde Erzählung und Betrachtung der Erhöhung unsers HErrn. Einfältige Anordnung so großer, herrlicher Gedanken! Erlaubt mir nun, meine Freunde, den Eingang des Apostels zum Schluß meiner Predigt zu nehmen, und euch zuvor die beiden Haupttheile des Textes vorzutragen, das ist, euch die Belehrung über Erniedrigung und Erhöhung zu geben, welche der Apostel seinen Philippern gibt. Der HErr aber und Sein guter Geist erleuchte und regiere meinen Geist, daß ich nichts anderes sage als mein Text, und mein Vortrag heut und allezeit sei eine menschliche Parallellinie, die treu und ehrerbietig neben der göttlichen Parallellinie des apostolischen Wortes herläuft.

 Wenn in der Kirche die Lehre von der Erniedrigung des HErrn abgehandelt wird, so ist es selbstverständlich, daß ein Zustand der Hoheit vorausgesetzt wird, da man zwar niedrig sein kann, ohne jemals hoch

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 214. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/222&oldid=- (Version vom 1.8.2018)