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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Ehre der ganzen Geschichte, die wir in dieser Woche feiern, der Geschichte der Geschichten, dem Todesgang des HErrn. –

 Und hier, meine lieben Brüder, kehren wir um, zum Anfang unseres Textes und machen mit ihm den Schluß, wie ich euch angekündigt habe. Seht noch einmal in die unabsehbaren schwarzen Tiefen Seiner Leiden. Hebet noch einmal den schweren, müden Blick auf bis zu dem undurchdringlichen Lichte Seines ewigen Aufenthalts. So hinab und so hinauf gieng JEsus, so hinab, auf daß Er so hinauf gienge! Und nach dieser Wiederholung der Hauptsachen unseres Textes höret und nehmet zu Herzen das Eingangswort des heiligen Apostels: „Ein jeglicher unter euch sei gesinnet, wie JEsus Christus auch war“. Wie war Er gesinnet? Das deutet dir der vierte Vers des Textcapitels, in welchem es heißt: „Ein jeglicher sehe nicht auf das seine, sondern auf das, das des andern ist“. Der HErr sah nicht auf das Seine, nicht auf die göttliche Gestalt, nicht auf die Gottesgleichheit, sondern Er sah auf das, was der andern war und ist: auf unsre Erlösung, auf unsre Seligkeit. Deshalb entäußerte Er Sich, nahm Knechtsgestalt an und erniedrigte Sich bis zum Tod am Kreuze. Und weil Er nun nicht auf das Seine sah, sondern rein auf das Unsere, und Sich um unsertwillen bis zum Kreuzestod erniedrigte, so hat Er mit dem Unsrigen auch das Seine gefunden, und hat Sich und damit auch unsre Natur gesetzt zur Rechten der Majestät in der Höhe. Nach-thun und nach-leiden, meine lieben Brüder, können wir dem HErrn JEsu Christo nicht; einen Erfolg haben wie Er oder nur in kleinem Maße ähnlich dem Seinen, können wir auch nicht. Er erwirbt ein vollgiltiges Verdienst für das Bedürfnis aller Sünder, wir hingegen leben allein aus Seinen Wunden und auch aller Gnadenlohn, den Gott nach Seinem freien Willen uns und unsersgleichen Arbeitern im Weinberg zuertheilen möchte, ist doch nur des Schweißes und Blutes JEsu Christi. Aber gesinnet sein sollen wir wie JEsus Christus; den Eigennutz, die Selbstsucht sollen wir ausziehen, und suchen was des Andern ist; uns verleugnen, klein, schwach, gering werden und sterben können im Dienste der Brüder, und damit ihnen unsre Hände unterbreiten und sie auf unsern Schultern empor steigen laßen zu ihrer Beßerung und ihrem Heile. – Da meine Freunde, habt ihr die rechte Passionsfeier, die Nachfolge JEsu, die Art und Weise, wie wir armen Sünder hinter dem großen Kreuzträger hergehen sollen auf dem Kreuzweg des Lebens, und unser kleines Kreuzlein Seinem großen Kreuze nachtragen. Wahrlich, meine Brüder, nachdem wir erkannt haben, zu welchen Höhen die tiefen Leiden JEsu führten; so kann uns ein Muth, ja eine Sehnsucht erwachsen, dem großen Herzog Aller, die da lieb haben, nachzuwandeln und das Andenken Seiner tiefen Selbstverleugnung gleicherweise durch Verleugnung zu feiern. Weil wir einen Heiland haben, der in dieser Welt für uns gelebt hat und gestorben ist für uns, und ewig lebt und für uns bittet, so können wir nichts beßeres thun, als auch zum Segen Anderer leben, leiden, sterben und hier und dort für sie beten. Als die Leidensgefährten Davids sich zu ihm sammelten, riefen sie ihm zu: „Dein sind wir, o David, und mit dir halten wir’s, du Sohn Isai! Friede, Friede sei mit dir, Friede sei mit deinen Helfern, denn Gott hilft dir“! Laßt uns Leidensgefährten JEsu werden, und Ihm auch also zurufen. Laßt uns zu Ihm sagen: „Ich will mich mit Dir schlagen an’s Kreuz, und dem absagen, was meinem Fleisch gelüst: was Deine Augen haßen, das will ich fliehn und laßen, so viel mir immer möglich ist“[WS 1].

 So laßt uns Seine werden und es mit Ihm halten. Alles was wir von Ihm lesen und hören werden in dieser Woche, reize uns zu Seiner Nachfolge in der Selbstverleugnung und demüthigen Aufopferung für andre. „Wie Er hatte geliebt die Seinen, so liebte Er sie bis an’s Ende“, steht von Ihm geschrieben. Wohlan, das sei auch unser Sinn. In dieser Woche sterbe der Haß, der Neid, der Groll, der Streit, und es triumphiere die Liebe, die Liebe zu den Brüdern, auch zu den Feinden. Wer in dieser Woche bei dem Andenken an JEsu unaussprechliche Freundes- und Feindesliebe noch zaudern kann mit der Buße, mit der Umkehr zu seinen Brüdern, mit der Liebe zu ihnen, der hat nicht verstanden, nicht gelernt, wozu man dem HErrn heute Hosianna gesungen, und was für eine Woche ER heute begonnen hat. Alle unsre Leidenschaften sollen schweigen und sterben, und unser alter Adam sich verbluten unter Buß- und Reuethränen des neuen Menschen am Kreuze JEsu. – Ja, HErr JEsu, das wirke in uns die Kraft Deines

Anmerkungen (Wikisource)

  1. O Welt, sieh’ hier dein Leben etc. Vers 15. Paul Gerhardt.
Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 221. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/229&oldid=- (Version vom 1.8.2018)