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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

meinen Text hinbewegen, wie durch die Gaßen einer im Sabbathlichte feiernden stillen Stadt; ich will auch gar nicht vor den einzelnen Häusern Halt machen, sondern nur den Eindruck des großen Ganzen suchen. Da seh ich denn zu allererst den Propheten stehen und neben mir gehen, oder vielmehr ich gehe neben ihm, und er ist mein Führer, und ich höre ihn im ersten Verse von einer unglaublichen Predigt reden und von einem verhüllten Arme Gottes, der niemand offenbar wird. „Wer glaubt unsrer Predigt, ruft er, wem wird der Arm des HErrn offenbaret?“ Es ist mir, als riefe er es mit aufgehobenen Armen, gehoben zugleich vom Inhalt seiner Predigt und vom Arm des HErrn und doch gedrückt und voll Unmuths über das blinde Volk, das nicht schauen, nicht hören, keinen Arm des HErrn erkennen will. Ich aber spreche zu meinem Führer, dem Propheten: Ich will glauben deiner Predigt, sprich sie, und sehen will ich den Arm des HErrn, zeige ihn mir. Da zeigt er mir ein Reislein, welches vom Boden aufschoß, und eine Wurzel, die aus dürrem Boden hervor sproßt, und darnach einen Menschen ohne Gestalt und Schöne, von welchem das Reislein und der Wurzelsprößling des dürren Erdreichs ein bloßes Bild ist. So wie man über ein Reislein, das vom Boden aufschoß, und über einen dürren Wurzelsprößling nachläßig dahin geht und sie nicht ansieht, auch nicht bedenkt, daß aus dem Reis und Sprößling am Ende doch noch ein Baum und ein Trost der Steppe erwachsen kann; so gehen die Leute vor dem Mann vorüber, den mir Jesaias als des Sprößlings Urbild gezeigt hat. Bald aber sehe ich nach des Propheten Weisung die Juden nicht mehr vor Ihm vorübergehen, als beachteten sie Ihn nicht, sondern es schließt sich mehr an, als die Bilder vom Reis und Sprößling deuten. Ich sehe den Mann zugleich verachtet und beachtet, nicht bloß grünend in Hoffnung, sondern voll Schmerzen und Krankheit; alles geht vorüber und will Ihn nicht, und vor Seinen Schmerzen verbergen sie ihr Antlitz. Merkt ihr, wer der ist, der so beachtet und so verachtet, so voll Schmerzen und doch so gemieden, so ohne Mitleid und mitten in Seinen Nöthen so verstoßen ist? Es ist der, der in Sein Eigentum kam, und die Seinen nahmen Ihn nicht auf; sie reichten Ihm ein Kreuz und Er trug es hinaus, ließ Sich daran hängen, umbringen und tödten. Da sollte das einzige grüne Reis der Hoffnung und der letzte Wurzelsprößling des Lebens in Schmerz und Verachtung ersterben.

 Aber mein Führer führt mich weiter und seine Rede hebt sich. Den Vorgang sahe ich, wie er mir ihn zeigte; nun aber wird mir das Auge geöffnet für den Sinn des Vorgangs und der verborgene Arm des HErrn wird mir enthüllt. In der weiten Steppe, aus welcher Reis und Wurzelsprößling aufschießt, sehe ich eine Menge irrender Schafe, es sind aber Menschen, und sie irren nicht, weil sie den Weg nicht wißen, sondern weil sie die Irrfahrt wollen: ihr Irrweg ist Sündenweg. Drohende Strafen wolken sich über ihnen auf, und der Allmächtige zürnet ihnen; doch aber erbarmt Er sich auch wieder und wirft auf den Mann, der das Reis ist und der Wurzelsprößling, wunderbarer Weise die Schuld und Strafe ihrer Irrfahrt. So wird dann Er gestraft und gemartert, an’s Kreuz geschlagen und getödtet; aber Er ist wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird, wie ein Schaf, das vor seinem Scheerer verstummt, und seinen Mund nicht aufthut. Wunderbares Verstummen, verborgener Arm des HErrn! Das Größte, was je geschehen, geht in der Stille vor sich. Da bläst keine Posaune, da ruft kein Herold Gottes, Himmel und Erde schweiget, die Sonne verhüllt ihr Angesicht, Finsternis deckt das Land, und dem HErrn hat es gefallen, das Größte im tiefsten Dunkel und die reichste Segensthat unerkannt, ja unter welcher Verkennung zu vollbringen. Doch predigt mein Führer, der Prophet, dem ich folge; doch rufen allmählich die heiligen Apostel, doch tönen bald die Lieder der Gemeinde und ich empfange die Deutung von allem in den anbetenden Worten: „Fürwahr, Er trug unsre Krankheit und lud auf sich unsre Schmerzen; wir aber hielten Ihn für den, der geplagt und von Gott geschlagen und gemartert wäre. Aber Er ist um unsrer Missethat willen verwundet und um unsrer Sünde willen geschlagen; die Strafe liegt auf Ihm, auf daß wir Friede hätten, und durch Seine Wunden sind wir geheilet“.

 Nun weiß ich, was geschieht, und meine ganze Seele bricht anbetend aus und spricht: „Lob sei Dir, Du König der ewigen Barmherzigkeit“.

 Hier stehen wir am zweiten Theile unseres

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 228. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/236&oldid=- (Version vom 1.8.2018)