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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

vor die Augen führe, die äußerlichen und die innerlichen, die leiblichen und die geistigen, von der Hautfarbe bis zur Sprache und zum Dialekte, so kommt mich ein Schauer an, nicht bloß über die Verschiedenheit, sondern über die tausend- und aber tausendfache Zertrennung, welche in den Verschiedenheiten der Menschen ihren Grund hat. Ich erkenne alsdann den Fluch des HErrn, der bei Babel über die Menschen kam, der sie lieber aller Dinge uneins, als im Bösen einig sein laßen wollte. Wenn ich mir dann aber wiederum ins Gedächtnis rufe, daß alle diese Verschiedenheiten durch das Werk des Gekreuzigten aufhören trennend zu sein, daß der Widerspruch unter ihnen weggenommen werden kann und soll und muß durch die Einigkeit der Geister im Glauben, ja daß diese Verschiedenheiten selbst nicht aufgehoben werden, aber am Ende harmonisch zusammenstimmen und samt und sonders zur Ehre eines einigen Gottes und Erlösers mitwirken sollen; – so erscheint mir das nicht blos als das Ende, sondern auch als die Krone aller Werke Gottes, und der Psalmenvers, in welchem die Rede davon ist, daß der HErr Recht behalten soll an jenem großen Tage und rein bleiben am Gerichte, scheint mir in dieser Vereinigung seine heiligste und völligste Erfüllung zu bekommen. Es ist allerdings ein tröstliches Gebet: „Wenn ich nur Dich habe, so frage ich nichts nach Himmel und Erde,“ und wenn Himmel und Erde vergehen und die Hand und Allmacht Gottes unser einziger Aufenthalt und Ruhepunkt sein wird, wird gewis dies Gebet unser Triumphgesang sein und alle Angst des Weltuntergangs in Freude verkehren. Aber wenn wir nun am Ende doch nicht Ihn allein haben werden, sondern bei und mit Ihm eine große heilige Kirche voll anerschaffner und voll Gnadengaben, wenn wir uns in der seligsten Gesellschaft und wunderbarsten Vereinigung mit den verschiedensten Menschen und Seelen vor dem HErrn finden werden; so wird doch unser Herz desto mehr voll Rühmens und unsre Zunge voll Preises sein. – In Christo werden wir alles, was wir je wünschen konnten, ja überschwänglich mehr haben und besitzen, Leib und Seele, Himmel und Erde, Er wird als das Amen aller Gottesverheißungen sich erweisen und wir werden erkennen am Tage und in der Zeit jener großen Fülle, was alles und welche Seligkeiten das christliche Wörtchen „Hoffnung“ einschloß.


III.

 Eine Schriftstelle sagt: „Geduld bringt Erfahrung oder Bewährung, Bewährung aber bringt Hoffnung.“ So sieht man also, daß zwischen Geduld und Hoffnung eine Brücke ist, und daß der Mensch, je mehr er trägt und duldet, nicht desto abgeschlagener, müder und todter werden muß, sondern, daß die Geduld kräftigend, stärkend, bewährend wirkt und das Auge für die ewige Herrlichkeit Gottes öffnet. Aber davon reden wir gegenwärtig nicht, sondern von dem umgekehrten Wege, daß Kräfte des Lebens aus der Hoffnung übergehen auf die Geduld, und zwar gerade auf die Geduld, von der in unsrem Texte die Rede ist, die sich am Gebrechen und der Schwachheit des Bruders übt, nach dem Frieden und der Freude der Bruderliebe ringt.

 Bei einem leisen Nachdenken kann es ein jeder für natürlich finden, daß die Hoffnung zur Belebung und Stärkung der Geduld wirke. Unsre Hoffnung ist die Wiederkunft des HErrn, der HErr aber ist der Richter, der Richter aber fragt nach der Geduld. Wenn nun der Richter kommt und nach der Geduld fragt und keine da ist, welche Schande, von der Strafe nicht zu reden. Welche Schande für den Richter und die Seinen! Brüder, wenn man in die Todesnähe tritt und sich der Sünden erinnert, die man mit anderen bereits entschlafenen, in die Freuden Gottes eingegangenen Christen, oder an ihnen begangen hat, da wird dem Herzen weh und traurig zu Muthe; denn wie soll man den Seligen Gottes begegnen, die man betrübt hat, die man zu Sünden gereizt hat? Der Uebergang aus der Zeit zur Ewigkeit wird schwer durch Scham. Wie aber soll man sich erst schämen vor dem heiligen und reinen Richter, der alle unsre Sünden, auch die nicht an ihm selbst geschehen sind, persönlich nimmt, dem mit allem weh geschieht, was wir sündigen. Ach was für eine Scham und Schande, wenn wir vor ihn treten, und all unsre Sünde dann hervorgekehrt werden und all unsre Missethat auf unsern Stirnen stehen wird. Und wenn er dann nach der Geduld fragt, wiederhole ich, und ist keine da, und man muß schmählich schweigen und verstummen: was für eine Schande wird das sein! Wahrlich, schon der Gedanke, schon der Blick auf unsre Hoffnung, auf die Wiederkunft Christi kann uns zur Geduld erwecken.

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 017. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/24&oldid=- (Version vom 1.8.2018)