Seite:Wilhelm Löhe - Epistel-Postille.pdf/245

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

zu wagen und sich mit ihnen selbst reinigen, heiligen und vollenden zu laßen! – –

 Man könnte sagen: es sollte aber eben auch die Zucht von oben her mehr empfohlen und befohlen sein, es sollte wieder Zuchtordnungen geben, vermöge deren sich diejenigen, welche die Liebe der Zucht üben wollen, für geschützt erachten könnten. Allein, meine Brüder, obschon daran etwas Wahres ist: so glaube ich doch, daß man durch solche Einwendungen die heilige Pflicht nur von sich wegzuschieben trachtet. Ich sehne mich darnach, daß das Zuchtgebot JEsu auch wieder einmal anerkannt und (wie jämmerlich klingt aber das!) zum Kirchengebote werde, und ich hoffe, es werde wohl auch einmal wieder dazu kommen; aber ist denn JEsu Gebot nicht über Kirchengebot, und wird Sein Wille mehr und beßer geschehen, wenn das irdische Regiment der Kirche ihn ausgesprochen haben wird? Die Ihm nicht folgen, werden die dem Kirchenregimente folgen? Ist’s nicht offenbar, daß des HErrn Gebot Kirchengebot sein muß? Ist Er nicht alleiniger HErr Seiner Kirche: kann etwas nicht gelten, was Er gesprochen hat? – Schöner Tag, wo uns eine Zuchtordnung dargeboten werden wird! Aber was hilft ein Kleid, für das sich am Ende kein Leib findet? Was hilft Canal und Waßerleitung, wenn kein Waßer da ist? Was helfen Waffen ohne Soldaten? Was helfen Zuchtordnungen ohne den Geist der Liebe und der Zucht? Die Zucht ist viel zu sehr Aeußerung der persönlichen und gemeindlichen Bruderliebe, als daß es möglich wäre sie ohne Brüder und brüderlich gesinnte Gemeinden in’s Werk zu setzen. Sie ist und bleibt die Sache, das Eigentum, die Kunst und Macht gemeindlicher Bruderliebe. Wo die Bruderliebe ist, schafft sie auch Ordnungen, zumal die Grundzüge in JEsu Worten klar vor uns liegen. Wo die Liebe erkaltet, nimmt die Ungerechtigkeit überhand, – und keine Macht des Staates, keine Ordnung der Kirche vermag alsdann den Mangel der Liebe zu ersetzen.

 Ihr werdet sagen: Was ist aber dann zu thun? Die Gemeinden sind einmal, wie sie sind: aus ihnen wächst nichts hervor, was Gott gefiele, so lange sie sind, wie sie sind. Da wird das Ende von der Predigt sein, daß alles bleibt wie’s ist – und so klar die Worte Christi und die Worte des heutigen Textes vor uns liegen: was werden sie ausrichten? – Meine Antwort ist die: ich weiß keine andre, ich warte Jahre lang auf eine beßere, ich kann nichts erlauschen, nichts vernehmen. Ich bleibe dabei: eine Ermahnung der beßeren Gemeindeglieder, eine Hingebung der Christen, die es sind, an Christi Zuchtbefehle, ein vereintes Leben der Christen für Zucht und Liebe und Heiligung kann alleine fördern. Entschloßene, aufopfernde, selbstverleugnende Liebe derer, die da an Christum glauben, wird Siege erringen und manchen Brand aus dem Feuer reißen. Erinnert euch, wie es vor 20, 30 Jahren im Lande aussah, sagen die gern Zufriedenen: wo war damals Gottes Wort, wo Glaube, wo Christen? Und ja, so sage auch ich Unzufriedener: seht auf die Erfolge der Kleinen, der armen Pfarrer und ihrer bekennenden Schaaren, – und lernt daraus, wie man weiter geht. So kommt man vorwärts, wenn man nicht verzagt, wenn man fröhlich sich für’s Gute vereint, es unter Widerspruch und Leiden bekennt und übt. Da habt ihr einen nun verstandenen Text: ihr habt die Zucht, auch die Abendmalszucht als ein göttliches Gebot erkennen gelernt.

 Auf nun, laßt uns leben für Liebe, Liebeszucht, Abendmahlszucht, für heilige Tischzucht JEsu – für Heiligung und Vollendung! Die Christen sind, die seien es in vollen Ernste. Es sei ihre höchste Angelegenheit, selig zu werden und sich des ewigen Berufes in dieser Welt würdig zu verhalten. Die eigne Seele erretten, das sei das Erste, – und das Zweite sei, die Brüder lieben und für die Mehrung ihrer Zahl, für die Heiligung, Gründung, Stärkung und Vollendung der Glaubensgenoßen zu leben. Jeder meide den bösen Schein, damit nicht andere durch den bösen Schein der Christen an der Sonne Christus irre gemacht werden. Jeder halte Glauben und gut Gewißen und laße sein Licht, sein Glaubenslicht leuchten, auf daß die Leute die guten Werke sehen, auf daß durch gute Thaten die Lästerung und Verleumdung überwunden werde und unsre Feinde von uns sagen müßen: „Ja, sie sind beßere Menschen.“ Und daß wir’s werden, dazu helfe dem Christen der Christ durch brüderliche Zucht. Laßt uns einander tragen mit unsern Schwachheiten, aber auch einander reizen und dringen, daß wir vorwärts kommen: keiner leide am andern Sünde, alle für einen, einer für alle müße sorgen in Demuth, in Bekenntnis der eignen Sünde, daß nicht der Balken im Auge

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 237. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/245&oldid=- (Version vom 1.8.2018)