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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Texte folgt, scheint nur eine Erläuterung des zweiundzwanzigsten zu sein und von nichts anderem zu sprechen, als von der Vollkommenheit JEsu im Gebrauche der Zunge. Er schließt sich eng an den Vers vorher an und führt die Rede desselben fort mit den Worten: „Welcher nicht wiederschalt, da Er gescholten wurde, nicht dräuete, da Er litte, es aber Dem anheimstellte, der da recht richtet.“ Doch darf man bemerken, daß dieser Vers, wenn überhaupt vom Gebrauche der Zunge, doch mehr vom Schweigen handelt, als vom Reden, daß er uns mehr ein Beispiel vom Nichtgebrauch, als vom Gebrauch der Zunge gibt. Der nicht wiederschilt, der nicht dräuet, sind nicht beide vielmehr Schweigende, als Redende? Und wenn einer dem gerechten Richter in der Höhe die Beurtheilung seiner Lästerer und Verfolger überläßt, sich selbst mit dem Urtheile gar nicht bemüht, geht nicht auch der, ich sage nicht bloß in äußerer, sondern auch in innerer Stille mitten hindurch durch seine Feinde, schweigt nicht ein solcher doppelt, äußerlich und innerlich?

 Diese Auslegung auf das Schweigen JEsu und auf die Empfehlung des Schweigens, welche in Seinem hohen Vorbild für die gescholtenen und leidenden Sklaven und für alle verfolgten und leidenden Christen ausgesprochen ist, wird auch ihr gewisses Recht behaupten, und man kann sagen, wer dem schweigenden Christus, der wie ein Lamm zur Schlachtbank und zum Scheerer geführt wurde, ohne Seinen Mund aufzuthun, in Seinem heiligen Schweigen nachfolge, der studire eine hohe Kunst und leiste in tiefer Stille mehr als viel tausend Zungen mit ihrem unermüdlichen Tönen.

 Es liegt in dem Schelten eine gar mächtige Herausforderung zum Wiederschelten, wie sich denn auch die ganze Welt für entschuldigt hält, wenn sie nur den Anfang zum Schelten nicht machte, wenn nur ihr Schelten das bloße Echo des Scheltens anderer war. Ebenso liegt in der Ohnmacht des Leidenden, der sich seiner Verfolger nicht erwehren kann, ein starker Antrieb zum Drohen und zwar im Namen des Allerhöchsten, und man könnte wohl eine große Anzahl von Beispielen solcher aufbringen, die unter den Händen ihrer Peiniger und Mörder sich in unzählige Drohungen ergoßen haben. Wer unter kleinen Leiden, wie sie uns vorzukommen pflegen, auf sich selbst geachtet und über die Regung seiner Seele gewacht hat, der wird es wohl bestätigen, daß Schweigen, zumal inneres und äußeres, keine kleine Selbstverläugnung für den ist, dem Unrecht geschieht. Die meisten gehen in solchen Fällen den Weg des geraden Gegentheiles, und das Geschrei der Verfolgten und Leidenden ist allenthalben groß in der Welt. Seltener noch als das pure Schweigen ist aber die Seelenstille und der innere, feierliche Sabbath, da man sich in Verläumdung und Verfolgung bei dem Weh und Leid gar nicht aufhält, anderen beßeren Gedanken nachgeht und Gott dem HErrn das Urtheil über das erlittene Unrecht ganz und gar anheim gibt.

 Das ist hohe Einfalt und große Tugend. Und doch wird mit dieser Erkenntnis der Sinn unseres Textesverses keineswegs erschöpft. Die einzelnen Worte des Verses sind denen der zehn Gebote zu vergleichen, die, wo sie verbieten, ein Gebot einschließen, und wo sie gebieten, ein Verbot in sich tragen. Unser HErr schalt nicht bloß nicht wieder, wenn Er gescholten ward, sondern Er segnete dagegen, Er drohete nicht bloß nicht, da Er litte, sondern Er betete voll Inbrunst für Seine Verfolger; Er stellte auch nicht bloß das Urtheil dem gerechten Richter anheim, sondern Er opferte sich auf und brachte Sein Blut und Leben zu einem Lösegeld für Seine Beleidiger dar. Die heilige Zurückhaltung, welche unser Vers im Ausdrucke braucht, muß uns ermuntern, zu den Worten Gottes diejenigen Zusätze zu machen, die wir nach andern Stellen desselbigen göttlichen Wortes machen dürfen, und eben damit das heilige Beispiel JEsu in seinen ganzen Glanz zu sehen. Es ist jedoch nicht bloß ein schweigender JEsus, der uns demnach vorgestellt wird, auch ist es nicht bloß die Absicht des heiligen Apostels, im Nichtgebrauch der Zunge einen Theil des rechten Gebrauches zu lehren. Es soll uns überhaupt nicht allein gezeigt werden, was einst ein Prediger seinem Volke im Leiden JEsu zeigte, daß man zu rechter Zeit reden, zu rechter Zeit schweigen solle, sondern, wenn uns der zweiundzwanzigste Vers unseres Texteskapitels die Sündlosigkeit JEsu im hellen Strahle zeigt, so offenbart uns der dreiundzwanzigste Sein liebevolles Herz und macht damit den würdigen Uebergang zum vierundzwanzigsten Verse, in welchem wir den vollkommenen

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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 261. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/269&oldid=- (Version vom 1.8.2018)