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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

JEsus, den Menschensohn voll Liebe in Seinem priesterlichen Amte und in Seinem Hunger und Durst nach der heiligen Absicht Seines priesterlichen Amtes schauen. „Er hat unsere Sünden selbst geopfert an Seinem Leibe auf dem Holze, auf daß wir der Sünde abgestorben der Gerechtigkeit leben, durch welches Wunden ihr seid heil worden.“ So lautet der vierundzwanzigste Vers. Das priesterliche Amt JEsu erscheint in demselben als die Fülle Seiner göttlichen Liebe. Der Apostel hat gar nicht vor, eine Belehrung über das priesterliche Amt des HErrn zu geben, sondern seine ganze Absicht ist, den Sklaven und allen Christen in Christo JEsu das vollkommenste Vorbild für die Zeit der Verfolgung und ungerechten Behandlung der Menschen zu geben. So gar nicht ließ Er sich erbittern, so wenig machte Er sich der Sünden Seiner Feinde theilhaftig, so völlig verzieh Er allen denen, die Ihm Leiden und Jammer verursachten, daß Er durch Seine Wunden sie heilen wollte und die ungerechten Leiden, die Ihn trafen, zu Versöhnungsleiden machte, Seine Kreuzigung zu einer Aufopferung für uns und Sein Blutvergießen zu einer Herstellung eines vollkommenen Reinigungsmittels für alle Sünden. Ein höheres Beispiel der vollkommenen Liebe im Leiden läßt sich nicht geben, nicht auffinden, nicht denken. Juden und Heiden behandeln unsern HErrn also und überschütten Ihn mit solcher Pein und Noth, daß man Ihn für einen von Gott geschlagenen und gemarterten halten konnte. Die Menschen gehen darauf aus, Ihn zu tödten und vom Plane der Welt wegzuschaffen: himmelschreiend ist ihr Benehmen. Was aber thut Er? Er schreit, und Sein Blut schreit lauter, als die Ungerechtigkeit um Rache ruft, um Erbarmung, und die Schmerzen Seiner Leiden und Seines Todes, mit welchen Ihn die Bosheit überschüttet, weiß Er, ich wiederhole und möchte es tausend mal wiederholen, umzuwandeln in Versöhnungs- und Erlösungsschmerzen und in einen Opfertod, durch welchen die ganze Menschheit straffrei wird, ja so heil und umgewandelt, daß sie der Sünde abstirbt und der Gerechtigkeit lebt. So wird aus dem Uebelthäter, den Pilatus verdammte, zugleich der Hohepriester und das Opfer der Welt, und mit dem heillosesten verdammlichsten Morde des Heiligen Gottes vereinigt sich wunderbarlich die selige Absicht unserer ewigen Erlösung. Mit der That der tiefsten Finsternis fällt zusammen die That des größten Lichtes und der Liebe, und dicht neben der Bosheit der Juden erscheint sieghaft und triumphirend eine Liebe, welche es unternimmt und vermag, die gottlosen Mörder zu reinigen, zu heiligen und zu ihrer Beute zu machen.

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 Meine theuren Brüder, als ich zu reden anfieng von dem Vorbild JEsu, nahm ich mir vor, zu vergeßen, daß der ganze heutige Text im Grunde eine Ansprache an Sklaven ist und daß ihnen zunächst ein hohes Beispiel des Verhaltens im Leiden in Christo JEsu vorgestellt werden sollte. Ich muß es euch aber gestehen, daß ich bei Betrachtung des hohen Vorbildes den Gedanken an die Sklaven nicht aus meinem Andenken bringen konnte, sondern daß mir im Gegentheil Schritt für Schritt der Gedanke an die Sklaven folgte und ich je länger je mehr durchdrungen worden bin von Bewunderung und Anbetung gegen den Gott, welcher sich in Christo JEsu der Sklaven so sehr erbarmt hat und ihnen fortwährend Sein liebevolles Andenken in solchem Maße zuwendet, daß der hohe Apostel Petrus ihnen zunächst das hohe Vorbild JEsu zum Eigentum schenkt, und durch seine heilige, wundervolle Rede den Beruf der Sklaven, die getreuesten Abbilder des leidenden Christus auf Erden zu sein, in das glänzendste Licht stellt. Schon wenn man dies Vorbild des leidenden Christus ins Auge faßt und auf die Sklaven anwendet, wird man von Freude über diese heutige Textwahl durchdrungen. Diese Freude aber wird erst recht vollkommen dadurch, daß in dem letzten Verse die christlichen Sklaven als die Schafe des guten Hirten vorgestellt werden, die nicht bloß von selbst dem Beispiele JEsu nachfolgen, sondern auch von Ihm auf ihren Leidens- und Entsagungswegen geleitet und geweidet werden. Es fällt mir gar nicht ein, die christlichen Sklaven zu den einzigen Schafen JEsu Christi zu machen und ihnen allein den guten Hirten zum Eigentum zu geben. Bin ich doch selbst ein Schaf JEsu, obwohl kein Sklave; könnte ich doch in meinem und aller Gläubigen Namen die Seligkeit, an dem Einen guten Hirten Theil zu haben, nimmermehr aufgeben, müßte sie vielmehr als unser gemeinsames nothwendigstes und unentbehrlichstes Gnadenrecht beanspruchen. Aber ich kann doch auch nicht läugnen, daß in unserem Texte zunächst die Sklaven angeredet

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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 262. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/270&oldid=- (Version vom 1.8.2018)