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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

auch nicht spotten, als wollte Er sie. Er will sie so gar nicht, daß man auch nicht einmal eine Versuchung zur Sünde Ihm zuschreiben darf. Er läßt das Böse zu, weil Er dem Menschen den freien Willen angeschaffen hat, das Böse aber nichts anders ist, als der Misbrauch des freien Willens. Er ist der große Künstler, der am Ende alles Böse mit Gutem überwindet und alle bösen Werke der Menschen und der Teufel Seinem göttlichen, heiligen Liebesplane unterthänig macht. Aber Er läßt sie zu und macht sie unterthänig und haßt und verdammt sie doch, verwirft und verwehrt sie sammt ihren Anfängen, den ersten Gedanken und Versuchungen dermaßen, daß auch niemand sagen darf, es sei der Wille Gottes, daß ein Mensch zum Bösen versucht werde. Das ist es, was der heilige Apostel im ersten Verse unseres Textes meint, wenn er ausruft: Irret euch nicht, meine geliebten Brüder. Worinnen sollen sie sich nicht irren? Nemlich in der Meinung, als würde jemand von Gott zum Bösen versucht. „Alle gute Gabe und alle vollkommene Gabe, also jede Eingebung und Anregung zum Guten und alle vollkommene Gabe und Kraft zur Heiligung, keineswegs aber die Neigung und Versuchung zum Bösen kommt von oben herab, vom Vater des Lichtes, bei welchem ist keine Veränderung, noch Wechsel des Lichts und der Finsternis.“ Die sieben Lichter vor Seinem Throne, das Licht, von dem geschrieben steht, daß Er drinnen wohnet, ist nicht wie das Sonnenlicht der Erde, das sich je nach der Tages- und Jahreszeit mehrt und mindert, oder gar dem Schatten weicht und der Nacht Platz macht; bei Gott ist ein Licht, ein unveränderliches und ewiges, ein reiner, heiliger, vollkommener Wille, der sich immer gleich bleibt und an alle freigeschaffenen Geister und Seelen immer aufs neue den alten Anspruch stellt, sich aus der Tiefe der eigenen Willensbewegung dem alleine guten göttlichen Willen anzuschließen. Das will Gott, sonst will Er nichts, und das gibt Gott, anderes gibt Er nicht; wer Ihm einen andern Willen oder eine andere Gabe zutraut, der lästert Ihn, und wer seine arme Seele nach geschehenem Fall, statt sie in die Buße einleiten zu laßen und sie zu den Wunden JEsu zu führen, mit einem vorhanden sein sollenden göttlichen Willen des Bösen trösten will, der führt sich selbst in die Irre und ins Verderben. Wer aber eine solche Lehre führt, nach welcher das Böse, und wäre es auch nur die Versuchung dazu, mit dem Willen Gottes übereinkommen sollte, den möchte ich nicht einen Wolf im Schafskleid, sondern einen offenbaren reißenden Wolf nennen, der es darauf abgesehen hat, Gott Seine Ehre zu rauben, dem Menschen sein Heil. Es gibt Fälle, in welchen eine Zulaßung Gottes vor dem blöden Auge des Menschen einem Willen Gottes so ähnlich sieht, wie ein Tag dem andern und eine Nacht der andern; es gibt in gewissen Fällen äußerst verführerische Gründe, mit denen man es nachzuweisen versuchen könnte, daß etwas Böses im Willen Gottes sei; wer es aber versuchen würde, es zu thun, wehe dem: denn es muß immer und ewig und in allen Fällen, so schwer es auch zuweilen gehe, festgehalten werden der ewige Grundsatz, daß Gott ein Licht ist und keine Finsternis in Ihm, daß die Sünde und das Böse nichts anders ist, als eine freiwillige Irrfahrt des menschlichen Geschlechtes, die von Gott wohl getragen, von Christo gesühnt, vom heiligen Geiste geändert und geheilt, nie aber gebilligt, gelobt oder gar getheilt werden kann. Ein Anathema und Wehe über alle Lehre, die dem Bösen und seiner Versuchung einen anderen Ursprung zuweist, als allein die Irrfahrt des kreatürlichen Willens.

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 Nach der Auffaßung des ersten Theiles unseres Textes, die wir gegeben haben, wird dem Menschen die Quelle des Bösen, das ihn ersäuft, ins eigne Herz gelegt; eine Offenbarung und Entdeckung, welche uns um so tiefer betrüben muß, je wahrer sie ist und je mehr sie sich in täglicher Erfahrung beweist. Diesem ersten Theile gegenüber steht nun der zweite des Textes, der uns eine heilige und für uns selige Lehre ist und uns tröstet in dem Elend auf Erden, die Gott verflucht hat. Es wird uns nämlich in diesem zweiten Theile gezeigt, daß wir, obwohl innerlich verderbt und durch Abkehr des kreatürlichen Willens böse geworden, dennoch gar nicht nöthig hätten, für immer und ewig in diesem verderbten bösen Zustand zu bleiben, sondern daß derselbe Gott, welcher in uns selbst alles Böse sieht, einen Weg gefunden hat, auf dem Er, Seiner ganz würdig, uns umschaffen kann und Kinder des Lebens aus denen machen, in welchen Sünde und Tod ihre Quellen und ihren Anfang gefunden haben. Was haben sich doch von Anfang her die Völker und ihre

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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 276. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/284&oldid=- (Version vom 1.8.2018)