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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

ist der Wille Gottes unsere Heiligung. Der HErr will, daß wir Gutes thun, und was Er will, das ist nothwendig, weil Er es will; Sein Wille ist Nothwendigkeit genug. Auch sind die guten Werke die nothwendige Frucht unsres Glaubens, und wer Zeit hat auf Erden seines Glaubens zu leben, bei dem muß diese Frucht erscheinen. Nicht die Menge der Früchte, nicht die Vollkommenheit derselben, nicht die oder jene Stufe der Vollkommenheit, aber das Dasein von Früchten, die Erscheinung des Zeugnisses guter Werke ist nothwendig, und eine Forderung, die, wenn auch mit Weisheit und Verstand, an jeden Christen von ihm selbst und seinen Brüdern zu stellen ist. Das ist es auch, worauf hin unser Text und seine Absicht geht. „Seid aber Thäter des Wortes, sagt St. Jakob, und nicht Hörer allein, denn damit betrügt ihr euch selbst. Denn wenn jemand ein Hörer des Wortes ist und nicht ein Thäter, der gleicht einem Manne, der sein leibliches Antlitz im Spiegel erblickt; denn er erblickte sich und gieng vorüber und alsbald vergaß er wie er gestaltet war. Wer sich aber darüber hinbückt über das vollkommene Gesetz, das Gesetz der Freiheit, und dabei beharret, der ist nicht ein vergeßlicher Hörer, sondern ein Thäter des Wortes, der wird selig sein in seinem Thun.“ Hier sehen wir also zuerst eine Schilderung des bloßen Hörers, dann aber auch eine Darstellung der seligen Folgen eines dem Wort getreuen Wandels. Das bloße Hören, ohne daß aus dem Hören gute Werke wachsen, ist uns als reiner Selbstbetrug dargestellt, der Selbstbetrug aber ist durch das Bild vom Spiegel erläutert. Ein Mann geht an einem Metallspiegel vorüber, wie ihn die Alten hatten. Der Spiegel thut seinen Dienst, er gibt dem Manne, deßen Blick in ihn fällt, sein Bild zurück; da aber der Mann am Spiegel nicht verweilt, Zeit und Fleiß nicht darauf wendet, sein Angesicht und seine Gestalt genau kennen zu lernen, so vergißt er sein Bild wieder und kennt sich hernach eben so wenig, als hätte er gar nicht in den Spiegel geschaut. Ebenso ist es mit dem oberflächlichen Hörer des göttlichen Wortes. So wie der Spiegel auf alle Fälle seinen Dienst thut, und auch der flüchtige Beschauer, der mit eilendem Fuße vorübergeht, sein Spiegelbild von ihm bekommt, so hat auch das göttliche Wort in allen Fällen seine Wirkung auf die Menschenseele. Ohne Eindruck läßt es keinen an sich vorübergehen. Auch das oberflächlichste Ohr nimmt etwas davon mit sich fort, was ihm durch nichts anderes zu Theil werden würde. Der Mensch erblickt sein Spiegelbild, und mit großer Wahrheit schaut er sich selbst an. Wie manchmal ein Mensch vor seinem Angesicht im Spiegel erschrickt und ihm seine eignen Züge unheimlich vorkommen, so bewirkt auch oft schon eine flüchtige Bekanntschaft mit dem göttlichen Wort eine Selbsterkenntnis, die man auf keinem andern Wege erreicht hätte; es offenbart sich ein Einfluß, und eine Gewalt über die Seele des Hörers, die er sich nicht zu erklären weiß. Das Wort des allmächtigen Gottes verleugnet seine Abkunft nicht. Wenn nun aber der Mensch sich vom Worte nicht faßen und festhalten läßt, Fleiß und Zeit nicht darauf wendet, es genauer kennen zu lernen, so entschwindet ihm der Eindruck wieder und die Strahlen des göttlichen Wortes haben ihn umsonst beschienen und ihm in die Seele geleuchtet. Aus dem Gesagten erklärt sich allerdings die Fruchtlosigkeit eines vorübergehenden und schnellen Hörens. Aber wie der Apostel diese Fruchtlosigkeit einen Selbstbetrug nennen kann, ist damit noch nicht klar. Der Betrüger ist nichts anders, als eine Art von Lügner, ein Lügner, der seiner Lüge zum Schaden anderer Glauben verschafft. Ein Selbstbetrüger belügt sich selbst und glaubt seine Lüge zu seinem eignen Schaden. Er muß also die Lüge entweder gar nicht für Lüge erkennen, oder wenn er sie auch von Anfang dafür erkennt, allmählich Sinn und Gefühl für das Unrecht verlieren und am Ende das Unrecht selbst für Recht halten. Die Lüge nun, mit welcher sich der Selbstbetrüger betrügt, ist das leichtfertige, unnütze Hören, das bloße Hinsitzen zum Wort und die Meinung, das schon sei Christentum, das Wort zu hören und dem allmächtigen Gotte die Ehre anzuthun, daß man bei Ihm und Seinem Posaunentone ein wenig verweilt und ein Weilchen zuhorcht. Indem nun ein solcher Mensch dies leichtsinnige Hören, bei welchem man auf den Inhalt des Wortes nicht einmal recht eingeht, schon für Gottesdienst und Seelenheil hält, bedient er sich selbst mit Lügen und betrügt sich um das Heil seiner unsterblichen Seele. Er geht in die Kirche, das Wort weht über ihn hin,

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 282. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/290&oldid=- (Version vom 1.8.2018)