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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

gelangt. Die Erklärung St. Jakobs ist einfach, so daß wir zunächst nichts anderes mehr bedürfen, als den Ausdruck „Gesetz der Freiheit“ zu verstehen.

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 St. Paulus lehrt uns, daß das Gesetz Zorn wirkt und Gottes Fluch über alle Uebertretung, im Menschen aber Erkenntnis der Sünde, Furcht und Scheu vor dem allwißenden Richter unsrer Tage hervorbringt. Wenn wir nun im ersten Psalme lesen: „Wer Lust hat zum Gesetz des HErrn und redet von Seinem Gesetz Tag und Nacht, der ist wie ein Baum, gepflanzet an den Waßerbächen, der seine Frucht bringt zu seiner Zeit, und seine Blätter verwelken nicht und was Er macht, das geräth wohl“; so ist damit eine so verschiedene, ja entgegengesetzte Wirkung des Gesetzes angegeben, daß St. Paulus und der Psalm unter demselben Worte „Gesetz“ nicht wohl dasselbe verstehen können. Das Gesetz bei Paulo wirkt Zorn, Furcht, Erkenntnis der Sünden, das Gesetz im Psalm wirkt grünendes, blühendes, früchtereiches Wohlsein, dem Wohlsein eines Baumes gleich, der an den Waßerbächen gepflanzt ist. Das Gesetz Pauli ist das Wort der zehn Gebote, das Gesetz im Psalm ist die ganze Thora, die fünf Bücher Mosis mit all ihrem reichen Inhalt, einem Inhalte, der reicher ist an Evangelium als an strengen Befehlen Gottes. Ein und dasselbige Wort, verschieden aufgefaßt, wirkt ganz Verschiedenes. Wer das Wort „Gesetz“ daher in allen Stellen der heiligen Schrift nur in paulinischem Sinne auffaßen wollte, der müßte das Wort Gottes mit sich selbst in Widerspruch setzen. Dieselbige Bemerkung kann man bei unserer heutigen Textesstelle machen. Da ist von einem vollkommenen Gesetze, von einem Gesetze der Freiheit die Rede. Wollte nun jemand das Beiwort „vollkommen“ unverständlich finden, weil er nicht wüßte, ob er es mehr auf die Vollkommenheit des Gesetzes selber, was das Einfachste ist, oder auf die Eigenschaft desselben, vollkommen zu machen, deuten sollte; so würde doch der Ausdruck „Gesetz der Freiheit“ nimmermehr anders gefaßt werden können, als von der Kraft des Gesetzes frei zu machen, – frei, wovon? Wovon sonst, wenn nicht von Furcht und Sclavensinn, von Angst und bösem Gewißen, von Gottes Zorn und drohender Strafe, an deren Stelle die sichere Zuversicht der Gnade und das selige Bewußtsein des Friedens Gottes tritt. Da nun das Gesetz in Pauli Sinn von alle dem das Gegentheil wirkt, nicht frei macht, sondern sclavisch, so muß St. Jakob wie der Psalter unter dem Gesetze etwas anders verstehen, als St. Paulus, sintemal ein Brunnen nicht aus einem Loche süß und sauer quillen kann. So ist es auch ohne Zweifel. Bei St. Jakobus ist das Gesetz offenbar ganz einerlei mit Gottes Wort überhaupt, mit dem Worte, welches in den kirchlichen Versammlungen vorgelesen zu werden pflegte. In den Versammlungen der ersten Zeit aber wurde hauptsächlich das alte Testament, die heilige Thora, die Propheten und übrigen Schriften des alten Bundes gelesen; das neue Testament war erst im Entstehen begriffen und konnte in jener frühesten Zeit in der reichen und doch bereits abgeschloßenen Sammlung von Schriften, die wir besitzen, nicht gelesen werden. St. Jakobus schreibt also der Thora und dem alten Testamente die Kraft zu, den eifrigen, fleißigen und eingehenden Hörer zu der Freiheit der Kinder Gottes zu bringen und zu einem heiligen Leben, zu einem schriftgetreuen Wandel zu führen, um deswillen nicht bloß andere den selig preisen müßen, der ihn hat, sondern auch er selbst alle Ursache bekommt, Gott mit Freuden zu danken und zu preisen. Wenn aber das alte Testament eine solche Kraft besitzt, wie vielmehr das neue, in welchem wir ja den kommenden Christus nicht bloß in voraneilenden Weißagungen und Schattenrißen, sondern mit aufgethanem Angesicht schauen. Da erscheint uns die Leutseligkeit und Freundseligkeit Gottes im hellsten Glanze; es bedarf daher nicht einmal des mühsamen und eingehenden Studiums, wie beim alten Testamente, nicht bloß den Weisen, sondern auch den Unmündigen und Kleinen wird die Kraft und befreiende, beseligende Macht des HErrn nahe gebracht, und wer daher die Schriften des neuen Testamentes ohne Erfahrung des göttlichen Segens, ohne Einwirkung auf das innere und äußere Leben hört, auf dem lastet eine viel größere Verantwortung und Schuld, als auf dem leichtsinnigen, vergeßlichen Hörer des alten Testamentes. Kann man das alte Testament ein Gesetz der Freiheit nennen, wie viel mehr das neue Testament, nur daß wir allerdings an diejenige Auffaßung des Wortes „Gesetz“, welche bei Paulo die herrschende ist, nicht einmal denken dürfen. – Hiemit, meine geliebten Brüder, schließt sich unsre Betrachtung des ersten Theiles

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 284. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/292&oldid=- (Version vom 1.8.2018)