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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

unserer Epistel. Das Wort, das treue Hören, die unausbleibliche Frucht guter Werke bei treuem Hören haben wir gesehen und es ist uns nichts zu wünschen, als daß uns zum Worte, das wir haben, das treue Hören und die selige Frucht eines heiligen Lebens voll in Gott geübter guter Werke geschenkt werde. Zunächst aber soll ein treuer Hörer diejenigen edlen Früchte bringen, die wir im zweiten Theile unsres Textes und in deßen letzten Versen kennen lernen.

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 Ein jeder von den heiligen Schriftstellern hat bei großer Uebereinstimmung mit den andern in Betreff der Wahrheit doch auch wieder seine eigne Weise zu denken und zu reden, und darinnen hervorstechende Eigentümlichkeiten sogar bis herunter zum Gebrauch einzelner Worte. So ist es nun eine hervorstechende Eigentümlichkeit des heiligen Jakobus mit allem Ernste auf den rechten Gebrauch der Zunge zu dringen. Jedermann unter euch ist es bekannt, in welch einer unübertrefflichen Weise dieser heilige Schriftsteller im dritten Kapitel seines Briefes über diese Materie redet, und was für treffende, glänzende Bilder er dabei anwendet. Nicht so ausführlich und eingehend, aber bei dem Zusammenhang mit der ganzen Epistel nicht weniger nachdrücklich redet Jakobus in unserem Texte von der Zunge, und lehrt uns, daß sich die erste Frucht eines göttlichen Lebens im Gebrauche der Zunge äußern müße. In beiden Stellen gebraucht er übereinstimmend einen und denselbigen Ausdruck, welchen man, weil er von anderen heiligen Schriftstellern nicht gebraucht wird, füglich einen jakobischen nennen könnte. Dieser Ausdruck ist ein bildlicher, vom Zaume der Pferde hergenommen, aber in seiner Bildlichkeit so vortrefflich, daß man den richtigen Gebrauch der Zunge vielleicht in keiner andern Weise beßer und lehrhafter darstellen könnte. Wer durch das göttliche Wort zur Freiheit hindurchdringt, der soll seines Mundes Herr werden, so wie ein Reiter durch Gebiß, Zaum und Zügel das Maul des Pferdes und eben damit den Kopf und das ganze Pferd regiert: man soll die Zunge, und eben damit sich selbst, den ganzen Menschen im Zaum halten. In diesem Ausdruck liegt zugleich Maß und Weisheit eines Apostels zu Tage. Vor dem Misbrauch der Zunge sind manche mit Recht erschrocken; in ihrem Schrecken aber sind sie auf ein verzweifeltes Mittel gerathen, nemlich auf ein solches Maß des Schweigens und Nichtgebrauchs der Zunge, daß man ihnen den Einwurf entgegenhalten muß, wozu ihnen denn der HErr die Zunge gegeben habe. Was hilft es, durch einen Fehler den andern vermeiden, und wer trägt am Ende schwerere Schuld, der ein von Gott gegebenes Gut und eine herrliche Gabe misbraucht, oder der sie im Schweißtuch vergräbt? Daher stellt sich der vollkommene Lehrer Jakobus keineswegs auf die Seite der Schweigenden, das ist, der Unterlaßungssünder, ebenso wenig als auf die Seite der Schwatzenden und Verläumdenden, d. i. der Uebertretungs- und Begehungssünder. Er lehrt uns die rechte Mitte und will, daß wir die Zunge im Zaum halten, also regieren nach Christi Sinn, auf Christi Pfad, zu Christi Ehren. Die Zunge ist ein unruhiges Uebel, kein Theil des menschlichen Leibes ist so schnell in allen Leidenschaften thätig wie sie; ist kein Regent vorhanden, so gibt sie Laut von jeder Regung der Seele, von jeder Begier, von jeder sündlichen Bewegung im Innern. Darum muß man immer den Zaum in Händen haben, und dieß unvernünftige Werkzeug unsrer Seele mit aller Aufmerksamkeit und allem Fleiße regieren. Wer das kann und thut, ist der größte Meister, und erweiset eine Vollkommenheit, der kaum eine andere gleich kommt. Wer hingegen in diesem Stücke nichts leistet, der bringt Mangel und Verderben in all sein übriges Leben, und befleckt alles und alles, was sonst an ihm löblich wäre. St. Jakob sagt: „So sich jemand unter euch läßet dünken, er diene Gott und hält seine Zunge nicht im Zaum, sondern verführet sein Herz, des Gottesdienst ist eitel.“ Er stellt also ein Beispiel auf und setzt den Fall, daß das Leben eines Menschen Gottesdienst sei, daß es mit allem Ernste und bewußter Treue zu allem angeführt und geleitet werde, was Gott gefallen kann. Da kann man sich also einen Menschen denken voll Gebet und Lieder, voll Andacht und Anbetung, voll Willigkeit, jeden Ort zum Gotteshause, jede Zeit zu einer Zeit der Feier zu machen. Muß man sich aber dazu denken, daß ein solcher Mensch seine Zunge nicht im Zaum halte, so bekommt man einen solchen Widerspruch gegen alles andre Thun desselben Menschen, daß man nicht eben von einem Apostel erst hören muß, um es zu glauben, sondern daß man es mit Zuversicht aus dem eignen Ermeßen heraus sagen und behaupten kann: ein solcher

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 285. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/293&oldid=- (Version vom 1.8.2018)