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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Heils Jerusalem und deßen nächste Umgegend: so hat Ers bestimmt und so muß es geschehen. Seine Hand zeichnet Jerusalem, damit auch unsere Herzen und unsere Augen sich dorthin richten, und wie vorher alle Erwartung, so hernach alle heilige Erinnerung an Jerusalem hafte. – Das dritte, was wir aus diesen vorbereitenden Versen zu merken haben, ist folgendes: Der HErr fuhr an dem Tage, an welchem Er redete, hinauf in die ewigen Höhen und verhieß die Ausgießung des heiligen Geistes nach wenigen Tagen, – nach zehn Tagen, wie wir das alle wißen. Hätte Er nicht ebensowohl Seinen heiligen Geist noch an dem Tage der Himmelfahrt über die Jünger ausgießen können? Warum wartete Er zehn Tage? Ist es deshalb gewesen, weil gerade an dem jüdischen Pfingstfeste das christliche Pfingsten eintreten sollte, damit die Verheißung und die Erfüllung zu Einer Zeit zusammen träfe? Hatte Er von Anfang und von Ewigkeit her bestimmt, daß wie das alttestamentliche Passah mit dem neutestamentlichen an einem Tage geschlachtet werden, so auch das alttestamentliche Pfingsten mit dem neutestamentlichen zusammentreffen sollte? Hat Er das alttestamentliche Pfingsten nach vorbedachtem Rathe schon von allem Anfang her auf den Tag verlegt, an welchem Er Seinen Geist über die Kirche ausgießen wollte? Oder hat es tiefere und höhere Gründe neben den bereits fragweise angedeuteten? Mußte der HErr in Seinem Himmel, wollte Er an dem Orte Seines ewigen König- und Priestertums noch himmlische Vorbereitungen auf die Ausgießung Seines Geistes machen, bedurfte Er die zehn Tage, um in der Ewigkeit Werke zu wirken, ohne deren Vollbringung der Geist Gottes nicht ausgegoßen werden konnte? Hie fragt man mehr, als man zu beantworten vermag; es läßt sich vieles vermuthen und ahnen, wovon wir keine Offenbarung, keine Kenntnis, keine Gewisheit haben. So viel aber sehen wir deutlich, daß der HErr, wie Er auch in Seinem verklärten Zustande die Orte unterscheidet, ebenso die Zeiten unterscheidet, und daß Er für alles Zeit und Stunde festgesetzt hat und einhält. Das sehen wir ja auch noch an einer andern Stelle dieser vorbereitenden Verse. Der HErr hatte den Jüngern gesagt, sie sollten in Jerusalem auf die Verheißung des Vaters warten; sie meinten, die Verheißung des Vaters werde ihnen nun gegeben werden, weil das Reich Gottes und Israels, das Licht am Abend der Welt, die Verherrlichung des Volkes Gottes vor dem Ende der Welt eintreten sollte. Der HErr aber sah dieses Ereignis und die Aufrichtung des herrlichen Reiches Israels noch in weiter Ferne, ganz andere Geschäfte waren noch zu vollbringen, nicht wie mit einem Schlage sollte die Kirche in ihrer Vollendung dastehen, sondern erst am Ziele einer langen Arbeit Seiner Knechte, am Ende aller Werke Seiner heiligen Mission sollte das Reich der Glorie Israels eintreten; deshalb sagte Er: „Es gebührt euch nicht zu wißen Zeit oder Stunde, die der Vater Seiner Macht vorbehalten hat.“ Also hat der Vater Zeit und Stunden, also behält Er sie vor und gibt eine jede zu seiner Frist; also unterscheidet der ewige Vater, wie der verklärte Sohn Zeiten und Stunden, Orte und Räume, und begabt Zeit und Raum mit Seiner mannigfaltigen Gabe nach vorbedachtem Rath. Uns aber wird das kund gethan, damit auch wir Zeiten und Stunden, Orte und Räume unterscheiden und achten und aufmerken, was uns der HErr an jedem Ort, zu jeder Zeit an Gnade schenken will.

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 Zu diesen drei Bemerkungen aus dem Bereiche des ersten vorbereitenden Theiles haben wir noch eine vierte zu machen, oder wenn ihr lieber wollt, einen gelegentlich schon geäußerten Gedanken noch besonders hervorzuheben, wie er es verdient. Es ist euch, meine lieben Brüder, bekannt, daß die ersten Christen eine baldige Wiederkunft des HErrn JEsus Christus erwartet haben; noch in ihren Zeiten glaubten sie, würde der Edle, der an Himmelfahrt über Land zog, wiederkommen, um die Arbeit Seiner Knechte zu beschauen. Wenn in der heiligen Schrift die Rede davon ist, daß der Edle verziehen würde, wiederzukommen, so hinderte sie das keineswegs in ihrer Hoffnung; sie hielten einen Verzug von Jahrzehnten für lang und beschwerlich genug, und waren ja auch von dem HErrn Selbst angeleitet, täglich und stündlich auf Ihn zu warten. Nun könnte man freilich aus unsrem Texte gegen eine so nahe Erwartung der Wiederkunft Christi etwas aufbringen, was wenigstens scheinbar einige Wichtigkeit haben könnte. Man könnte nämlich sagen, der HErr habe doch nicht undeutlich zu verstehen gegeben, daß das Zeugnis von Ihm zuvor zu allen Völkern, ja bis ans

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 290. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/298&oldid=- (Version vom 1.8.2018)