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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

selbst. Faßen wir unsern Text ins Auge, so können wir uns aus demselben die Frage lösen, was denn die Himmelfahrt des HErrn gewesen sei. Wir alle wißen die lutherische Lehre, daß der HErr durch Seine Himmelfahrt keineswegs aufgehört hat, auf Erden zu sein. Wenn Er einmal sagt: „Wo zwei oder drei in Meinem Namen versammelt sind, da bin Ich mitten unter ihnen“; oder ein anderes Mal: „Siehe, Ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende“, so kann Er das nicht bloß von Seiner göttlichen Allgegenwart meinen, weil Er nicht bloß als zweite Person der Gottheit, sondern als das mensch- und fleischgewordene Wort, als Immanuel und Gottmensch von sich redet. Er redet von Seiner göttlich-menschlichen Allgegenwart, deren größtes, wunderbarstes und bekanntestes Zeugnis die Allgegenwart JEsu im Sakrament des Altares ist. Wenn nun aber der HErr allenthalben, namentlich in Seinem Sakramente gegenwärtig ist, so könnte man sagen, Er habe also in Seiner Himmelfahrt die Erde nicht verlaßen, weil Er noch allenthalben gegenwärtig sein könne und gegenwärtig sei. Allein so vollkommen richtig das ist und so fest in den Worten der heiligen Schrift gegründet, so dürfen wir doch keinesfalls die Lehre von der Allgegenwart der Menschheit JEsu, namentlich in Seinem Sakramente, in Gegensatz zur Wahrhaftigkeit Seiner Himmelfahrt setzen. Kein Mensch kann die Stellen des göttlichen Wortes von der Himmelfahrt lesen, ohne den unmittelbaren Eindruck und die Ueberzeugung zu bekommen, daß die heiligen Schriftsteller von einer wirklichen Ortsveränderung reden, von einer Auffahrt in die Höhe, über die Region der Wolken hinaus, ja über alle Himmel. Was bei allen andern Leiblichkeiten ein reiner Widerspruch wäre, das darf bei der Leiblichkeit des Gottmenschen, deßen Menschheit nach dem Zeugnisse der heiligen Schrift Theil an den göttlichen Eigenschaften hat, nicht als widersprechend genommen werden. Der Himmel ist ein Ort, ein Ort der Offenbarung Gottes, ein Heiligtum des HErrn; dort hinein zieht JEsus an Seinem Heimfahrtstage, als in den Ort Seiner ewigen Ehren und Seiner Offenbarung; Seine sichtbare, leiblich begränzte Gegenwart ist zur Zeit nicht mehr auf Erden, sondern in der Höhe; dabei aber ist Seine unsichtbare, wunderbare und sakramentliche Allgegenwart auch kein Mährchen, sie ist gleichfalls auf unwidersprechliche und klare Worte der heiligen Schrift gegründet, und zufolge der heiligen Schrift kann man daher nicht anders als beides festhalten, eine wirkliche Himmelfahrt, einen Aufenthalt JEsu in den ewigen Höhen und eine wahrhaftige Allgegenwart der Leiblichkeit unsers HErrn allenthalben, namentlich im Sakrament. Ob wir beides zusammen reimen und vereinigen können oder nicht, das ist für denjenigen eine sehr gleichgiltige Sache, der in allen Stücken schriftmäßig sein will und daher beflißen ist, im Glauben aufzufaßen und zusammenzufaßen, was Gott der HErr spricht. Der HErr wird dermaleins in keine Verlegenheit kommen, vor der geschaffenen Vernunft alle Seine Wege im Zusammenklang zu zeigen; wer Ihm in Einfalt glaubt, wird am Ende die Herrlichkeit Gottes schauen und es ewig nicht bereuen, alle Vernunft unter den Gehorsam des Glaubens gefangen genommen zu haben. Wir können diese Worte in dem Falle, von dem wir reden, desto ruhiger führen, weil bei gemachtem Unterschied zwischen unsrer Leiblichkeit und der gottverlobten Leiblichkeit unsres HErrn ein Widerspruch zwischen einer besonderen und sichtbaren Gegenwart Christi im Himmel und einer unsichtbaren Allgegenwart nicht einmal besteht. Im Gegentheil, diese himmlische Gegenwart und irdische Allgegenwart des Leibes JEsu geht so eng zusammen, daß die eine mit der andern gewißermaßen gleichzeitig ins Leben tritt. Die Zeit, in welcher der HErr gen Himmel fährt, ist dieselbe, in welcher Er auch Seine göttlich menschliche Allgegenwart offenbart und antritt; diese hängt von jener ab und ohne die wahrhaftige Auffahrt JEsu gäbe es auch wohl keine wahrhaftige Allgegenwart JEsu; Er würde bei uns nicht allezeit sein, nicht überall sein, wo zwei oder drei in Seinem Namen beisammen sind, wenn Er nicht aufgefahren wäre und sich zur Rechten der Majestät in der Höhe gesetzt hätte. Wirkliche Auffahrt, wahrhaftige Allgegenwart des HErrn, beides hängt innigst zusammen: die Himmelfahrt ist eine wahre Auffahrt und zugleich der Eintritt JEsu in den Stand der Erhöhung, vermöge welcher auch Sein Leib allgegenwärtig wird. – Doch können wir auf unsre Frage, was die Himmelfahrt des HErrn sei, aus unsrem Texte auch noch andre Antwort geben.

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 Der HErr fährt auf über alle Himmel und ist

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 292. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/300&oldid=- (Version vom 1.8.2018)