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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Nachricht vom Wort und Verhalten der Jünger, von allem, was zur Aufrichtung der heiligen Kirche auf Erden nöthig ist, und es gehen auch heute Evangelium und Epistel würdiglich neben einander.

 Wenn man die Epistel liest, so ist einem eben, als sollten die Seelen der Jünger geschildert werden, die von der Himmelfahrt Christi nach Jerusalem zurückgehen auf den Söller, auf welchem sie in seliger Gemeinschaft, voll heiliger Erinnerungen, voll Sehnsucht und Gebetes dem großen Tage entgegen gehen, der ihnen neue Kräfte und eine Erhebung ihres Lebens bringen sollte, von der sie zuvor keinen Gedanken hatten. Schon in den Tagen des Lebens JEsu in der Niedrigkeit hatten sie Mittheilungen des heiligen Geistes genug bekommen; in den Worten JEsu wirkte der Geist JEsu auf die Jünger. In den vierzig Tagen nach der Auferstehung, unter den Gesprächen des verklärten HErrn, die Er mit Seinen Jüngern vom Reiche Gottes führte, kamen diesen noch reichere Zuflüße des Geistes. Wenn also nunmehr nach der Auffahrt Christi auf eine neue Ausgießung des heiligen Geistes zu warten ist, so hat man sich nicht zu denken, daß nun alles vorige, die reichen Mittheilungen des heiligen Geistes in den Zeiten des sichtbaren Umgangs mit JEsu Christo, wie nichts angesehen werden sollen; sondern es tritt eben eine neue Stufe ein und den Jüngern, die da haben, wird nun gegeben, auf daß sie die Fülle haben; es geht von Licht zu Licht, von Kraft zu Kraft. Daher kann man in der Epistel Gaben und Tugenden angezeigt finden, die sie am Tage der Himmelfahrt bereits hatten, mit denen erfüllt sie vom Oelberg nach Jerusalem zurückkehrten, und die sie doch auch wieder in neuen Maßen an Pfingsten bekommen sollten. Was sie haben, das wird ihnen auch aufs neue gegeben, nicht bloß anderes und völlig neues, sondern das alte in neuem Maße, Tugenden, die für Pfingsten befähigen, Tugenden, die an Pfingsten neu gegeben, geläutert und gereinigt, gemehrt und gestärkt werden. Wir, meine lieben Brüder, können freilich unsere Gnadenmaße nicht mit denen der Apostel vergleichen: was sind wir gegen die Apostel; aber dennoch, so gering wir sind, es geht uns ganz wie den Aposteln, wir haben Anfänge von Gaben und Tugenden, welche die Fortsetzung bedürfen; unser gesammtes geistliches Leben gleicht den Pflanzen, die, ehe der Frühling kommt, in der Erde stecken und verborgen sind, als wären sie todt, da sie doch nicht todt sind, die aber, wenn die Frühlingslüfte kommen und die Erneuerung der Erde erfolgt, emporgehen, blühen und Früchte tragen, die man von den armen winterlichen Wurzeln nicht gehofft hätte. So haben auch wir in uns ein Leben und dies Leben hat seine Gaben und Tugenden, aber wir harren auf einen Frühling und auf ein Pfingsten, durch welches, was da ist, gemehrt, zur Kraft, zu Trieb und Blüthe und Frucht gefördert werden soll. Es muß auch uns gegeben werden, was wir haben. Das wollen wir im Auge behalten, wenn wir nun mit einander den Text betrachten, der vor uns aufgeschlagen liegt.

 Der Text in seinem ersten Verse und deßen erstem Theile redet vom Gebet. Das erinnert an die zehn Tage vor Pfingsten, welche die Jünger mit Gebet und Flehen in Jerusalem zubrachten. Der gesammte übrige Inhalt des Textes redet von der Liebe, der guten Haushalterin über alle Gaben Gottes, und zeigt, wie diese Liebe in immer weiteren Kreisen, in immer größeren Arbeits- und Berufskreisen und Aemtern das Gute thut, das Heil der Menschen und Gottes Ehre schafft.

 So seid nun mäßig und nüchtern zum Gebet,“ sagt der heilige Apostel. In diesen Worten finden wir einen Stufengang: Mäßigkeit, Nüchternheit, Gebet, und zwar finden wir, daß der Fortschritt dieser drei nicht bloß anzeigt, wie Nüchternheit mehr ist, als Mäßigkeit, Gebet aber höher als beide, sondern wie alle drei mit einander in Beziehung treten, eines das andere vorbereitet und vergleichsweise das Gebet die höchste Höhe ist, zu welcher Mäßigkeit und Nüchternheit emporzustreben haben. Der Name „Gebet“ deutet auf ein hohes geistiges und geistliches Leben. Mäßigkeit und Nüchternheit aber scheinen auf ein so kühles Leben hinzudeuten, daß wir vielleicht von uns selber es für ganz unstatthaft halten würden, mit diesen Namen Vorstufen des Gebetes anzudeuten. Allein, meine geliebten Brüder, da der Apostel die drei zusammenreiht, und die ersten zwei in Beziehung zu dem dritten setzt, so wird es allerdings mit unserer Schätzung der ganzen Reihe von Tugenden nichts sein; Mäßigkeit und Nüchternheit werden sich dem Gebete gegenüber nicht wie Kälte und Wärme verhalten, sondern vielmehr wie die reine Luft zur Flamme, die darinnen lodert, und wir werden das erkennen,

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 296. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/304&oldid=- (Version vom 1.8.2018)