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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

der Ausgießung Seines Geistes sich ereignen sollte. Was Er von allem Anfang her versehen hat, können wir, nachdem es eingetroffen ist, nimmermehr vergeßen. Der Tag, welchen Er Selbst Seiner Kirche bereitet und zum Geburtstage bestellt hat, bleibt ihr bis ans Ende unaustilgbarer, als jeder leibliche Geburtstag im Gedächtnis. Der Gott, der alle Tage in gleicher Würde geschaffen hat, hat es doch nicht verschmäht, die Tage, an welchen Er der Welt die größten Wohlthaten erzeigte, kund zu machen, und da Er sie kund gemacht hat, so ist es gewis nicht Sein Wille, daß sie von uns unbeachtet bleiben; was Er benennt, will Er unserm Gedächtnis einprägen. Also an diesem kenntlichen, merklichen Tage waren die Jünger beisammen. Das ist die Ortsbezeichnung, die, wenn auch sehr allgemein gehalten, dennoch deutlich genug ist, um für eine Ortsbezeichnung zu gelten. Es ist nicht gesagt, wo sie beisammen waren; wenn sie aber beisammen waren, mußten sie örtlich beisammen sein, und zwar mußte der Ort, an dem sie waren, ein ziemlich geräumiger sein, weil ja nicht bloß die Jünger, so viel oder wenige ihrer waren, sondern auch die Menge der Juden Platz haben mußte, welche zusammenströmte. Die Frage, wo in Jerusalem wir diesen Ort zu suchen haben, kann zwar nicht mit voller Sicherheit und Gewisheit beantwortet werden, aber eine Antwort gibt es ja doch. Seit dem Tage der Himmelfahrt hielten sich die Jünger zusammen und zwar, wie uns der 13. Vers des ersten Kapitels berichtet, auf dem Söller eines uns unbekannten Gebäudes, von welchem aus der HErr mit ihnen nachdem Oelberg zum Orte Seiner Auffahrt gegangen zu sein scheint. Es war wohl das Haus eines Bekannten, eines Freundes und Anhängers JEsu, zu welchem sie vom Oelberg zurückkehren und in welchem sie sich nun wohl auch die nun folgenden zehn Tage versammeln konnten. Ob sich aber die Jünger am Tage der Pfingsten an demselbigen Orte versammeln konnten und wollten, wie in den vorausgehenden Tagen, das ist eine andere Frage. Wird sich denn ein Privathaus gefunden haben, in welchem die Menge zusammenströmen konnte, von der im Texte die Rede ist? Dreitausend Menschen ließen sich an jenem Tage taufen; diese dreitausend aber waren nicht einmal die volle Anzahl derer, die versammelt waren, sondern nur die Anzahl derer, die das Wort gerne annahmen. Welches Privathaus, in dem die Jünger JEsu Zutritt hatten, gewährte wohl Raum für auch nur dreitausend Menschen? Man sieht wohl, die festliche Zeit und die Zahl der zusammenströmenden Menschen deuten auf einen größeren Versammlungsort der Kinder Israel, auf den Tempel und auf die Halle Salomonis, auf den größten, zugleich würdigsten Ort für eine solche Zusammenkunft und ein solches Ereignis. An diesem Orte also waren die Jünger, wie St. Lucas spricht, alle zumal einmüthig beisammen. – Die Jünger alle zumal: wie viele mögen das wohl gewesen sein? Haben wir uns bloß die Zwölfe zu denken, welche nach den unserm Texte unmittelbar vorangehenden Berichten durch die Wahl des heiligen Matthias wieder vollständig geworden waren? Schon der nach dem griechischen Worte eine größere Gesammtheit zusammenfaßende Ausdruck „alle zusammen“, kann uns bestimmen, die Frage zu verneinen. Noch mehr aber spricht für eine verneinende Antwort der Zusammenhang mit dem ersten Kapitel überhaupt. Nach dem 13. und 14. Verse des ersten Kapitels waren nicht bloß die heiligen Apostel, sondern auch die heiligen Frauen, insonderheit die Mutter JEsu, Maria, und Seine Brüder wartend und betend versammelt. Bei der Wahl des heiligen Matthias waren sogar 120 Christen, also zehnmal so viel versammelt, als Apostel waren. Da nun der Pfingsttag ein hoher Festtag der Juden war, also die Jünger schon dadurch sich eingeladen fühlen mußten, zahlreich zusammen zu kommen, – da jeder Tag mehr ihre Erwartung und ihr Gebet steigern mußte, weil ein jeder die größere Wahrscheinlichkeit bot, daß an ihm die Verheißung des Vaters erfüllt werden würde – da die ahnenden Seelen der Gläubigen den alttestamentlichen Pfingsttag voraus als einen Tag hoher Erfüllungen ansehen konnten, so werden sie sich gewis in den Vormittagsstunden dieses Tages so zahlreich als möglich zusammengefunden, gewartet und gebetet haben. Wir werden daher schwerlich einen Fehlschluß machen, wenn wir die Schaar der versammelten Jünger mindestens in der Ausdehnung uns denken, die uns das erste Kapitel an die Hand gibt. Von dieser zahlreichen Schaar wird nun gerade wie von den nach der Himmelfahrt versammelten Gläubigen Kapitel 1, 14 bezeugt, daß sie einmüthig versammelt gewesen seien. Zahlreich, zu einer und derselben Zeit, an einem und

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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 303. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/311&oldid=- (Version vom 1.8.2018)