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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

demselben Orte, wartend und betend, im Warten und Beten und in der Liebe einmüthig war die bräutliche Versammlung der heiligen Kirche am Pfingsttag. Aeußerlich und innerlich eins waren sie geschickt und würdig geworden, von dem HErrn heimgesucht und einen mächtigen Schritt vorwärts geführt zu werden.

 Während sie nun in andächtigem Gebete, in tiefer innerer Stille und glühender betender Sehnsucht versammelt waren, geschah plötzlich aus dem Himmel ein Brausen, ein Ton wie eines gewaltigen daherfahrenden Wehens und Windes und erfüllte das ganze Haus, wo sie zusammen saßen. Alles wunderbar! Der Schall wird nicht bloß als von der oberen Gegend, wie man zu sagen pflegt, vom Himmel herkommend, bezeichnet, sondern es heißt, er sei aus dem Himmel gekommen, also aus dem Orte der Offenbarung Gottes, in welchen der Erlöser an Seinem Auffahrtstage eingegangen war. Der Ausdruck erinnert stark an ähnliche Vorgänge, die uns die Offenbarung St. Johannes berichtet. Jedenfalls also geht die Bewegung von Gott und Seinem ewigen Heiligtum aus, der HErr gedenkt an die Seinen, und die hörbare, bald auch sichtbare Offenbarung Seines Andenkens hat die Absicht, den versammelten Gläubigen die sichere Gewisheit zu geben, daß alles, was nun geschehen sollte, nach Gottes Willen und göttlich sei. Eine Bahn wird gebrochen vom Himmel zur Erde, zum Versammlungsort der Kirche, eine Verbindung zwischen jenseits und diesseits wird geschloßen. – Wunderbar ist der Ausgangspunkt des Getöns, wunderbar die Beschreibung desselben. Es ist, als wenn sich von der obersten Region der Welt ein Wehen, ein Hauch des göttlichen Mundes aufmachte und herabführe; es ist etwas gewaltsames und unwiderstehliches in dem Wehen und in dem Schall, und das gewaltige Wehen hält seine Bahn ein, wie die Strömung des Windes. Wie der Wind daher fährt, so fährt dies göttliche Hauchen und Wehen einher, hält seine Bahn ein, ja strebt nach einem Zielpunkt, nach dem Versammlungsorte der Gläubigen. Das gewaltige Wehen ergießt sich in dies Haus hinein und füllt das ganze Haus. Also im Hause wehet es und schallt es, und die Versammelten wißen, daß sie aus dem Himmel angeweht sind, und daß im Schalle eine Stimme ist aus der höchsten Höhe. Sonst hält kein Wind so schmale Bahn ein, daß er sich nur auf ein einziges Haus könnte stürzen, der Winde Bahnen sind breiter. Sonst hat kein Wind ein Haus zum Ziele, um in demselben zu verhallen und zu versiegen. Das ist nun eben Gottes Wehen, Gottes Schall, und dieser Schall, dies Wehen sucht nicht die Welt auf, sondern die Jünger, die den HErrn lieb haben und Sein Wort halten; zu denen kommt der Unbegreifliche und Allerhöchste im zugleich frischen und glühenden Hauche, um bei ihnen Wohnung zu machen. Ich will es nicht versuchen, zu beschreiben oder auch nur anzudeuten, wie es den versammelten Gläubigen bei diesem gewaltigen Wunder zu Muthe gewesen sein muß, wie sie die Erfüllung der Verheißung des Vaters ergriffen, erregt und erhoben haben muß. Was nachher geschah und was man aus Petri Munde hört, gibt redenden Beweis, daß die Regung und Bewegung der Seelen eine durchaus wohlthätige, stärkende, klärende und selige gewesen sein muß. Doch haben wir ja diese Bewegung nicht bloß dem brausenden Winde zuzuschreiben, sondern der nächste Vers zeigt uns den Fortgang des Ereignisses so mächtig und gewaltig, daß wir erst betrachten und beschauen müßen, was geschieht, ehe wir vom Eindruck reden können.

 Dieser nächste Vers heißt nach Martin Luthers Uebersetzung also: „Und man sahe an ihnen die Zungen zertheilet, als wären sie feurig. Und er setzte sich auf einen jeglichen unter ihnen.“ Nach dieser Uebersetzung hätte man die Zungen der Jünger gesehen und zwar zertheilt und feurig, und er, das wäre dann doch offenbar der heilige Geist, hätte sich auf einen jeglichen von ihnen gesetzt. Wir dürfen nun aber nicht leugnen, daß es bei Uebersetzung dieses Verses gerade so gegangen ist, wie bei vielen andern: in der Uebersetzung liegt bereits Luthers Auslegung. Wörtlich übersetzt heißt der Vers: „Und es erschienen ihnen zertheilte Zungen wie von Feuer, und er (oder es) setzte sich auf jeglichen einzelnen unter ihnen.“ Statt daß also an ihnen die Zungen feurig geworden wären, hätten sie selbst zertheilte feurige Zungen gesehen; Zungen wären ihnen erschienen und er, oder es, je nachdem man in dem nicht völlig deutlichen Ausdruck den Geist denkt, oder die feurige Erscheinung, in der er sich offenbarte, setzte sich, also sichtbar, auf jeden einzelnen. Wenn nun gleich diese wörtliche Uebersetzung nicht völlig mit Luthers Uebersetzung

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 304. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/312&oldid=- (Version vom 1.8.2018)