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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

 Die Betrachtung ist mit dem Texte zu Ende. Ehe wir nun aus einander gehen, fragen wir uns noch: was ist denn also Pfingsten? Die Antwort, welche wir geben, möge sich an euer aller Herzen und Verständnis bewähren. Pfingsten ist nicht der Anfang der Wirkung des heiligen Geistes in dieser Welt, denn der Geist Gottes war und wirkte von Anfang her unter den Menschenkindern. Pfingsten ist auch nicht das Fest der Wiedergeburt der Jünger; sie standen längst schon in der Wiedergeburt und Gnade. Pfingsten ist aber allerdings der Anfang einer neuen Art von Wirkung des Geistes Gottes und eines zuvor ungewohnten Maßes seiner Ausgießung über die Menschenkinder. Der Geist Gottes ergießt sich vom oberen Jerusalem nach Zion, nicht um von da aus, wie in den Tagen des alten Bundes, ein einziges Volk heimzusuchen, sondern um mit Heilserkenntnis alle Völker zu überfluthen. Was JEsus im heiligen Lande erworben und gewonnen, das soll nunmehr durch die übernatürliche Wirkung des heiligen Geistes ein Gemeingut aller Völker und Menschen werden. Pfingsten ist der Anfang der aus allen Völkern zu sammelnden Kirche Gottes auf Erden, der Geburtstag des Israels neuen Bundes, des auserwählten Volkes. Für die Jünger aber war das Fest der Pfingsten ein mächtiger Fortschritt ihres inneren Lebens nach Erkenntnis, Wollen und Empfinden. Jetzt erst erkannten sie JEsum, sintemal Er den Geist über sie ausgoß; jetzt erst erkannten sie Seine heilige Absicht, weil ihnen nun der Gedanke der Kirche lebendig und thatsächlich ins Leben trat. Jetzt begannen sie die scharfe Scheidung zwischen Welt und Kirche zu begreifen, den geistlichen Reichtum zu erfaßen, den ihnen JEsus Christus erworben hatte, selig und fröhlich in allen Seinen Werken zu sein. Jetzt erst begriffen sie ihren eignen neuen apostolischen Beruf, jetzt erst giengen sie mit allen ihren Kräften in den Willen ihres JEsus ein. Was sie bei JEsu gelernt, das trat jetzt ins Leben; was Er gesagt hatte, das erfüllte sich nun. Die Schule war aus; sie selber wurden nun Lehrer der Völker und der ganzen Welt, und die erste Gemeinde der Mittelpunkt, der Anschlußpunkt aller andern, der Anfang und Grund des ganzen Gebäudes und Tempels des lebendigen Gottes.

 Was am ersten Pfingsttage begonnen hat, dauert jetzt noch an und währt bis ans Ende. Noch weht, wenn auch nicht unter Begleitung von Sinnbildern, derselbe Hauch der ewigen Liebe vom Himmel; noch flammen, wenn auch nicht mehr mit sichtbaren Feuerzeichen, die Zungen, die die Welt entzünden. Man hört in allen Sprachen die großen Thaten Gottes preisen; das Wort der Apostel ist lebendig in allen Landen; die Schaar der Zuhörer, die Zahl der Gläubigen wächst und nimmt zu. Das Werk kann niemand hindern, die Arbeit darf nicht ruhn; unaufhaltsam baut der heilige Geist den Tempel des Vaters und des Sohnes; immer ist Pfingsten. Auch unsere Lebenszeit ist ein Theil der großen Pfingstzeit der Welt: wenn nur an uns nicht das Rauschen spurlos vorüber geht, die Flamme des heiligen Geistes nur auch unsere Häupter und Seelen heimsucht! Wenn nur auch wir, nachdem wir in der Taufe wiedergeboren sind, den Aposteln ähnlich, in unserm geringeren Maße wachsen und zunehmen und fortschreiten von Licht zu Licht, von Kraft zu Kraft! Wenn nur unser Leben recht pfingstmäßig und frühlingsmäßig wird! – Meine Augen sehen zu den Bergen, von welchen die Hilfe kommt. Keine Pfingstsehnsucht bleibt unerhört, von dorther kommt Antwort. Wer eines redlichen Herzens ist, wer betend zum Himmel schaut, dem antwortet gewis der HErr der Herrlichkeit. Wer Ihn lieb hat und Seine Worte hält, zu dem kommt Er und macht Wohnung. – Ich kleines Steinlein für Deinen Tempel, ich armes Glied für Deinen Leib, ich schwache Rebe für den Weinstock, ich armer Erlöster, ich Dein sündiges Eigentum, – so viel, so sehr aus der Tiefe, so hoch in die Höhe ich rufen kann, rufe ich, flehe ich, bete ich um mein Pfingsten, zu Deiner Ehre, o HErr, und zur Förderung Deines Eigentums, meiner Seele. Amen.


Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 309. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/317&oldid=- (Version vom 1.8.2018)