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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Am ersten Sonntage des Advents.
Matth. 21, 1–9.

 DIe Wehmuth des letzten Sonntags im Kirchenjahre und das kindlich freudige Getöne dieses unsers heutigen ersten Sonntags berühren sich. Schmerz und Freude – und alle Gegensätze der Welt sind Nachbarn. Mit feierlich schmerzlichem Sehnen sieht der Mensch eine Sonne untergehen; über Nacht stirbt das Sehnen; – muthig und hoffnungsreich grüßt auch der Greis die nächste Sonne bei ihrem Aufgang. Wie Tages Ende und Anfang, so auch Jahres Ende und Anfang. So ists – wer wird sich beim Wechsel der Dinge über den Wechsel der Gefühle grämen? – Also wohlan! Nimm Abschied von dem blutigen Abend roth des jüngsten Gerichts, das dein Herz betrübt hat vor acht Tagen! Wach auf, Psalter und Harfe! Gelobet sei, der da kommt im Namen des HErrn! Er kommt heute und morgen und bis ans Ende der Tage – Er wendet uns, so lange wir leben, nie den Rücken! Er ist immer vor uns. Hosianna, selig macht Er uns in der Höhe!

 Saget der Tochter Zion: „Siehe, dein König kommt zu dir!“ Tochter Zion, wie glücklich bist du, zu dir kommt der HErr und Er läßt dirs sagen. – „Tochter Zion, wo bist du?“ – „Kennest du dich nicht?“ Du bists, die da fragt. Du Seele, du Mensch, getauft auf Seinen Namen, von Kind auf erzogen in Seinem Wort! Wo Sein Wort und Seine Sakramente, da ist Er, da ist Sein Volk, da sucht Er es heim. Dich, also dich, Leser, und alle deines und meines Gleichen, die ganze heilige evangelische Kirche preise ich glücklich! Ja, euch wünsche ich und verheiße ich ein gnädiges neues Jahr! – Sie können es nicht leiden, daß man die Tochter Zion glücklich preise! „Seid umschlungen, Millionen“ – das ist beßer in ihren Ohren. Aber bleiben wir bei dem Wort und Befehl des HErrn, der da spricht: „Saget der Tochter Zion: dein König kommt zu dir!“ Dir, Tochter Zion, wünschen wir Glück! Denn zu dir kommt der König, – Er wird durch Sein Kommen dein König. Alle Heiden werden Im Lichte Zions wandeln und im Glanze, der über ihr aufgeht, alle Völker! Um meiner Brüder und Freunde willen, aber auch um der irrenden Schafe willen, um der „Millionen“ willen wünsche ich dir Glück, Königin, Tochter Zion, Gottes Kirche! Wenn es dir wohl geht, wird die Welt erleuchtet und deines Trostes voll! Wenn es dir übel geht, wird es Nacht in Landen! Es müßen gesegnet sein, die dich segnen, – und die dich nicht segnen, segne du, denn du bist reich und groß und sanftmüthig in allerlei Sinn, wie der HErr, dein König, der da kommt, der zu dir kommt – und bei dir bleibt ewiglich! Amen.


Am zweiten Sonntage des Advents.
Luc. 21, 25–36.

 SO seid nun wacker allezeit und betet!“ Das ists, was uns von diesem Evangelium beständig in der Erinnerung bleiben und in den Ohren klingen soll. Das Ende und seine Vorbereitungen kommen, kommen gewis, wenn wir auch Zeit und Stunde des Kommens nicht wißen. Jede Stunde bringt uns dem Ziele näher. Wachen, daß wir nie schläfrig und sicher werden, – beten, daß wir nicht alleine stehen,

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 319. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/327&oldid=- (Version vom 1.8.2018)