Seite:Wilhelm Löhe - Epistel-Postille.pdf/328

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

sondern Licht und Kraft von oben bekommen in der versuchungsvollen letzten Zeit – ist uns allen in jedem Stande, in jeder Zeit des Lebens bei der drohenden Gefahr des Endes nöthig. Wer wollte es leugnen? Und obschon niemand es leugnet, wer ist fähig, darin treu zu sein? Wer wacht, wer betet, wie er soll? Sollen wir der Vermahnung des HErrn folgen, so bedürfen wir eine Hülfe von außen, ein Gewißen, das uns in die Ohren klinge, wenn das Gewißen inwendig entschläft und still wird. Ein solches Gewißen hat uns der barmherzige Gott in der heiligen Kirche gegeben. Das gewöhnliche Leben schläfert ein, aber die Kirche mit ihren Gottesdiensten ist eine Weckstimme, die ohne Ende ruft: „So seid nun wacker allezeit!“ Das gewöhnliche Leben mit seinen Sorgen und Lüsten vertreibt Lust und Geist des Gebetes; die Kirche aber betet, lehrt beten, ermahnt zum Gebete durch lebende Zungen der Prediger, durch todte Zungen der Glocken, ja schon durch die nach oben weisende Gestalt ihrer Versammlungshäuser. Das ganze gottesdienstliche Leben der heiligen Kirche heißt: „Wachet und betet!“ Darum entflieht sie „diesem allen“, das da kommen soll, – und mit ihr alle ihre Kinder, die sich um sie, zu ihr in ihre Arche sammeln. Findest du also Schwachheit in dir, der Vermahnung des HErrn zu gehorchen, so horche desto fleißiger auf deine Begleiterin im Leben von der Wiege bis zum Grabe, denn die Kirche mit ihren Gebeten, Predigten, heiligen Handlungen harrt dein, ehe du geboren wirst, empfängt dich bei der Geburt, leitet dich durch die Jugend, auf die Höhe des Lebens und von da abwärts, bis dein Ohr ihren letzten Segen vernimmt. Sei nicht mistrauisch gegen ihr weckendes, ermunterndes segnendes Wort! Geh an ihrer Hand, wie Loth an der Hand des Engels aus Sodom, wie Petrus aus dem Gefängnis sie führt dich zum Berge und zu der Stadt Gottes und zu der ewigen Gemeinde, welche von den Schrecken unsers Evangeliums nicht bedroht wird.


Am dritten Sonntage des Advents.
Matth. 11, 2–10.

 DIe Frage des Täufers: „Bist Du’s, der da kommen soll?“ ist es, welche diesen Text zu einem Adventsevangelium macht. Das „Du“ mit Nachdruck gesprochen, stellt uns den HErrn in Seinem ganzen Lebenslaufe von der Geburt bis zum Grabe vor Augen. Du Armer, Du Verachteter, Du Leidender, Du Gekreuzigter, Du Sterbender, Du Getödteter – bist Du Der, der da kommen soll, der geweißagt ist von allen Propheten, auf Den Israel und alle Völker harren? Ist Dein Erscheinen – der Inhalt aller Weißagungen oder nicht? – Diese Frage, welche Verheißung und Erfüllung vergleicht, wird uns in der Adventszeit vorgehalten, auf daß wir unsers HErrn recht gewis werden und Seinen Geburtstag hocherfreut begehen: – Der HErr gab Antwort genug, sie stillt unsre Seele, sie erfreut das Herz. Ja Seine Werke, auf welche Er deutet, loben Ihn, den Meister. Wer aber unter allen Menschen gibt wohl Seiner Antwort unter der Sonne den hellsten fröhlichsten Beifall? Wer jauchzt Ihm zu: „Ja, Du bist bereits zugegen, Du Weltheiland, Jungfrausohn!?“ Ich will dirs sagen, frage dann deine Seele, ob sie in diese jauchzende Schaar gehöre. Es sind die Armen, denen das Evangelium gepredigt ist, es aufgenommen und geglaubt und erfahren haben als Gottes Wort. Es sind die geistlich Armen, die aller Freuden quitt sein würden, wenn ihnen nicht das süße Evangelium gepredigt würde. Es sind die, die nichts mehr in sich selber, nichts mehr um sich, nichts mehr auf Erden, sondern alles in Christo, alles in Ihm besitzen, die da wißen, was sie an Ihm haben, diese sind es, die Sein „Ich bins“ mit einem jauchzenden: „Du bists“ erwiedern, – sie sind die fröhlichen Wächter an Seiner Krippe und das Geschlecht der Lobsänger JEsu, das nicht stirbt, noch ausstirbt. – Bist du von dem Geschlecht? – dann wäre dir Weihnachtszeit eine Freudenzeit.


Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 320. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/328&oldid=- (Version vom 1.8.2018)