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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Am vierten Sonntage des Advents.
Joh. 1, 19–28.

 IM vorigen Evangelium erscheint der HErr als Der, der da kommen soll, – und weil es von dem Kommenden handelte, behaupteten wir, es paße in die Adventszeit. Unser heutiges Evangelium aber stellt den HErrn als Den vor, der „bereits mitten unter euch getreten, den ihr nicht kennet,“ spricht der Täufer. Wie schön paßt schon deshalb dieß Evangelium auf den Sonntag, welcher der nächste vor Weihnachten ist, der nächste vor dem Geburtstage des HErrn, an dem Er mitten unter uns trat und wir kannten Ihn nicht. Mit freudigem Zittern mag mancher Israelit, der auf das Reich Gottes wartete, die Worte Johannis vernommen haben! Mit freudigem, kindlichem Zittern vernehmen auch wir sie und stehen am Eingang dieser Woche, nach deren Ende unsre Sonne aufgehen soll, so ahnungsvoll.

 Aber nicht bloß um der genannten Worte willen paßt dieß Evangelium auf diesen Sonntag. Nein, es ist noch mehr Paßendes da. Nicht bloß ahnungsvoll wartend sollen wir Deßen warten, der kommt und mitten unter uns ist; sondern dieß Evangelium ruft auch zu: „Bereitet dem HErrn den Weg!“ Zur Thätigkeit, werden wir aufgefordert. Alle unsre Kräfte werden aufgeboten, Sein Kommen in unsre Seelen möglich zu machen. Und wenn wir fragen: „Wie bereitet man Ihm den Weg?“ so gibt uns auch darauf dieß schöne Evangelium die Antwort. Es zeigt uns den Täufer und in seinem Benehmen jene wahre Demuth, die sich nicht achtet, keinen Vorzug mehr in sich findet, sondern alleine an JEsu Wohlgefallen hat, die sich nur für Ihn geschaffen, für Ihn in Kraft und Leben erkennt. – Meinst du, die Demuth sei ein bloßes Ruhen? da irrst du. Die Demuth hat großen Kampf und gewaltige Thätigkeit. Ja, wenn die eigenen Lasten abzulegen so leicht wäre, wenn das geschehen wäre, wie wenn man vom Rücken eine leibliche Last abwirft! Bei leiblichen Lasten ist nichts leichter, als abwerfen, während aufladen und tragen schwer ist. Aber bei unsern Seelenlasten ist es umgekehrt: aufladen und tragen Sünd und Hochmuth – ist leicht; aber desto schwerer abthun. Da ist es, als bekäme alles Böse tausend und aber tausend Hände, sich an uns fest zu halten, so gar klebt und hängt es uns an und macht uns das Ablegen zur schweren, schweren Arbeit. Diese schwere Arbeit ist es, welche auch Wegbereiten heißt, – wer diese scheut, zu dem kommt JEsus nicht. – Wir scheuen sie nicht, o Du, der kommen soll; aber gib Du, der Du mitten unter uns stehst, uns Deine Kraft, daß wir Deinen Weg bereiten – und komm dann, komm bald, HErr JEsu!

Amen.

Am Weihnachtsfeste.
Luc. 2, 1–14.

 DEinen Ruhm und Preis, o neugeborener König, auszulegen ist eine Unmöglichkeit für sterbliche Zungen! Engelheere, wie sie Jakob bei Machanaim nicht sah, singen vollkommenere Lieder, aber auch ihre Lieder reichen an Deine Herrlichkeit nicht, nicht an Deine Lieblichkeit! Laß mich, der ich so gerne von Dir geredet habe und rede, an Deiner Krippe verstummen und stille werden! Seliges Reden von Dir, – selige Stille in Dir!

Ohne Sünde Geborener, der Du mit meiner Sünde beladen wirst; –
Erster, einziger Sohn Deiner Mutter, Lebenszweck Deiner Mutter und Deines Pflegevaters Joseph, vaterloser Waise, König und Heiland Deiner Mutter; –
Gott und HErr der Welt und dennoch ein Kindlein in Windeln und Krippe, der Du aus unbegriffenen Höhen in die tiefen Thale herniederkamst, – Allmächtiger, der Du Alles kannst, auch Mensch und klein werden; –
Unermeßlicher, der Du keinen Raum fandst, da Du kamst, – der Du aber kamst, um Deinem
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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 321. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/329&oldid=- (Version vom 1.8.2018)