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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

ein Urteil über sie, eine Würdigung derselben. Das laßet uns noch betrachten.


III.

 „Mir aber gilt es für’s geringste, daß ich von euch abgeurteilt und abgewürdigt werde, oder überhaupt von einem menschlichen Gerichtstag,“ so sagt der Apostel im 3. Vers des Textes. Aehnliche Reden hört man zuweilen auch von anderen; wenn über sie geurteilt wird, wie es ihnen nicht gefällt, wenn ihnen das Urteil tief in die Seele fährt, wenn sie sich davon im innersten angeregt, erregt und empört fühlen, Zorn und Unmut auflodert, dann sprechen auch sie: „Mir ist das allergeringste, was Du sagest, Deine Rede ist mir völlig gleichgiltig.“ So sagen sie, aber wahr ists nicht, was sie sagen; es dient ihnen die Sprache nicht zur Offenbarung des Innern, sondern zur Verhüllung, sie heucheln, und ihr ganzer Zustand steht in Widerspruch zu ihrer Rede. So ist es aber bei St. Paulo nicht. Zwar verachtet auch er das Gericht der Korinther, ja jedes Gericht eines menschlichen Tages oder, wie wir zu sagen pflegen, jeglichen Termin, aber nicht deshalb, weil er innerlich aufgebracht voll Unmuts und Zornes wäre, oder weil ihm die Korinther selber so gleichgiltig wären mit allem, was sie redeten und sagten, oder weil ihn der Hochmut beseßen hätte. Nein, sondern weil er ein anderes Gericht kennt, vor welchem er die tiefste Ehrfurcht hat. Dies Gericht aber ist nicht das Gericht seines eigenen Gewißens. Von diesem spricht er im Gegenteil: „Aber ich richte mich auch selbst nicht, denn ich bin mir zwar nichts bewußt, aber damit bin ich nicht gerecht gesprochen.“ Man sagt zwar: Ein gut Gewißen ist ein sanftes Ruhekißen, und in Anbetracht mancher Versündigung mag es auch wol gelten. Ein Mensch kann beschuldigt werden etwas Böses vollbracht zu haben, was er nie gethan hat. Warum sollte er da nicht in seinem ruhigen Gewißen ein gutes Ruhekißen haben? Da kann es kommen, wie bei dem König David, welcher bei aller tiefen Buße, die sein Herz durchdrang, dennoch seinen Feinden gegenüber beten konnte: „Richte mich, Gott, nach meiner Gerechtigkeit und nach der Reinigkeit meiner Hände.“ Ganz etwas anderes aber ist es, wenn ein Mensch z. B. ein Hirte und Lehrer auf seine ganze Amtsführung schaut. Wie einer da von einem guten Gewißen reden kann, begreife ich wenigstens nicht. Ich bin erstaunt über das Wort des Apostels: „Ich bin mir nichts bewußt.“ Für mich liegt in dieser Behauptung, auch wenn ich sie begrenze und auf bestimmte Vorwürfe der Korinther gegen Paulus beziehen will, nach dem Zusammenhang nichts destoweniger die Behauptung einer außerordentlichen Vollendung des inneren und äußeren Lebens, und weil ich dem Apostel die Worte glaube, ein Beweis, daß man selbst bei Bekenntnissen, wie sie St. Paulus Röm. 7 gethan hat, doch auch in diesem Leben eine bedeutende Stufe der Heiligung erringen kann. Sonst aber glaube ich nicht blos aus meiner eigenen, sondern auch aus der Seele anderer Hirten heraus die Stimme abgeben zu dürfen, daß die Berufung auf das Amtsgewißen mit St. Pauli Worten nicht leicht von einem Lehrer unsrer Zeit gewagt werden wird. Das Bewußtsein vieler und schwerer Schuld hat einmal einen Hirten gedrungen, zu sagen: „Selig kann ein Pfarrer sterben, aber fröhlich nicht.“ Und einen solchen Ausspruch könnte ich wenigstens weit eher unterschreiben, als die Worte des Apostels: „Ich bin mir wol nichts bewußt.“ So tief scheint mir das Bewußtsein meiner Schuld, meiner Amtsschuld zu gehen, daß ich oft schon den gewagten Wunsch gethan habe, der HErr möge mich gnädiger richten, als ich mich selber, sonst müße ich schon um meiner Amtssünden willen ewig verloren sein. Ich habe zuweilen gemeint, es könne einem Hirten begegnen, daß sein Auge vom Schauen in die Schwärze seiner Sünden auch nicht mehr das Gute sähe, das Gottes Geist in ihm wirkte, wie man durchs Schauen ins Schwarze etwa fürs Licht unempfänglich werden kann. Auf die Trüglichkeit des menschlichen Urteils auch über die eigne Sünde habe ich mich zuweilen unterstanden eine kleine Hoffnung auf ein gnädigeres Urteil des HErrn zu gründen und in meiner Weise an den Urteilsspruch JEsu zu appelliren, weil ichs in der Weise Pauli nicht vermag. Der sagt: „Ich bin mir wol nichts bewußt, aber damit bin ich nicht gerechtfertigt,“ und setzt eben damit die Möglichkeit, daß ihn sein gutes Gewißen trüge, wiewol ich dennoch glaube seinen Worten abmerken zu dürfen, daß er auf ein gnädiges Urteil seines Gottes hofft. Ich aber appellire an meinen HErrn in meinem und andrer Hirten Namen in einem ganz anderen Sinn, in der Meinung, daß er die Wirkungen seines Geistes

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 026. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/33&oldid=- (Version vom 1.8.2018)