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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

geben können. So wenig ich mir denken kann, daß die Schmerzen der gebenedeiten Mutter unter dem Kreuze aus Unglauben oder Unwißenheit hergerührt hätten, ebensowenig, und man darf wohl sagen, noch weniger kann man sich denken, daß die Art und Weise der Mutterschaft Marien sie nicht zur ersten Anbeterin und Jüngerin JEsu gemacht hätten. Maria und Joseph bedurften sicherlich nicht der heidnischen Gesandschaft, um in ihrem eigenen Glauben fest zu werden. Aber angeregt, freudig angeregt wurden gewis auch sie, als die seligen Magier sich dem Säugling anbetend und opfernd nahten. Sie konnten es merken und inne werden, wie JEsus, der Neugeborne, der Preis und die Herrlichkeit Seines Volkes werden sollte. Die besten aller Heiden, die weisesten unter ihnen folgen den Magiern nach zur Anbetung und zum Opfer. Das Volk Israel selbst tritt allmählich, wenn auch zögernd in dieselbigen Fußtapfen ein; Juden und Heiden beten vor Einem Heiland. Aber der, vor dem sie anbeten, ist selbst ein Israelite; einer aus Davids Stamm, von jüdischer Nation, ein ewiger und unvergänglicher Tempel der Gottheit, ja Gott und Mensch in einer Person. Man beneidet sonst ein Volk um Seine großen Männer, die Juden aber werden, obwohl von allen gepriesen, doch von niemand beneidet, dafür, daß Gott aus ihrem Geschlechte die Menschheit an Sich nahm. Dieß Glück, diese Ehre, dieser Preis ist selbst für den Neid zu groß. Einzig, jede Wiederholung ausschließend ist die Menschwerdung Gottes aus Israel, und alle Gläubigen auf Erden erkennen demüthig diesen Vorzug der jüdischen Nation vor allen andern an.

 Der Heiden Licht und Israels Preis leuchtet im Evangelium dieses Tages lieblich und prächtig in alle Augen. Gott ist gegenwärtig in Israel, Immanuel hat sich in Bethlehem eingefunden. Ein Tag der Erscheinung ist da. Tage gleicher Würde ohne Zahl sind diesem Tage gefolgt. Man kann seit dem Tage der Pfingsten die ganze Zeit eine Zeit der Erscheinung nennen, eine Zeit der Offenbarung des Wesens und der Gnade Christi. Sonderlich hat damals unsere Zeit, der Heiden Zeit begonnen, und wenn Israel bisher je länger je weniger in Christo JEsu seinen Preis zu erkennen scheint, so wird doch der Chor der Heiden immer reicher und volltöniger und ihr Tag immer lichter, die Anbetung JEsu immer ausgebreiteter, immer unzähliger das Heer der Bekenner und Lobsänger, deren Herzoge die Weisen aus Morgenland sind. Drum wollen wir, drum sollen mit uns alle Heiden sich des heutigen Tages, als ihres Jahrestages und als des Anfangs der Zeit der Heiden freuen und den Allmächtigen anrufen, daß diese Zeit, so lange sie noch währet, immer gesegneter werde, immer zahlreicher die Heerschaar der gläubigen Heidenschaft, damit auch Israels Tag und Seligkeit wie ein Licht am Abend der Welt erscheine und die Zeit der Welt geendet und erfüllt werden könne zum Preise des HErrn und Seiner uralten heiligen und seligen Gedanken.


Am ersten Sonntage nach dem Erscheinungsfeste.
Luc. 2, 41–52.

 OHne Zweifel waren JEsu Eltern die besten Eltern, sonst würden sie nicht zu Seinen Eltern erwählt worden sein. Und doch gibt es an ihnen zu tadeln! Sie erkennen beßer, als viele Erzieher vom Fach, daß die Gottesdienste das edelste Erziehungsmittel sind, ja, ihnen däucht sicherlich die Erziehung im Ganzen nichts anderes, als eine Hinanführung der Kinder zum HErrn und Seinem heiligen Dienste: darum eilen sie, ihren JEsus, so bald es möglich ist, mit hinauf nach Jerusalem zu nehmen. Sie nehmen Ihn mit, sie sind Seinetwegen sorglos, sie trauen Ihm der Hin- und Heimreise wegen das Beste zu, sie können auf der Heimreise einen Tag lang gehen, ohne Ihn zu vermißen, weil sie Ihn immer in ihrer Nähe glauben. Ein schönes Vertrauen, aber doch fehlerhaft! Warum? Weil es zu frühe aufhört, weil das Maß desselben zu gering ist. – – Da der Knabe vermißt wird, erschrecken die Eltern, sie suchen Ihn überall, sie suchen Ihn drei Tage, sie suchen Ihn mit Schmerzen, sie suchen, bis sie Ihn finden, ihr Schmerz und ihre Freude hat keine Gränzen: das zeigt sich in den tiefsinnigen Worten: „Mein

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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 327. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/335&oldid=- (Version vom 1.8.2018)