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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Sohn, warum hast Du uns das gethan? Dein Vater und ich haben etc.“ Schmerz und Freude, sie geben beide Zeugnis von der gränzenlosen Liebe zu Ihm, in dem die Eltern ihres Lebens Glück und Freude sehen. Wahrlich, grenzenlose Liebe – und doch eine tadelhafte! Warum? Weil sie zu menschlich war. – Du schüttelst, lieber Leser, das Haupt dazu? Ich neige meines dagegen, um meine Behauptung zu bejahen. Die Eltern haben dem Knaben JEsu viel zugetraut und doch zu wenig. Gerade da sie nicht für Ihn sorgen konnten, da sie Ihn vermißten, hätten sie Ihm, oder doch dem Vater im Himmel, oder doch den Engeln, die über Bethlehems Fluren sich zu Ihm bekannt hatten, zutrauen sollen, daß Er bewahrt, am besten Orte sei. Kann Ihm denn ein Unfall begegnen, der Seine Sendung hindert? Der Augapfel aller Himmel, die Perle der Welt, der Liebling, der Einzige des Vaters, kann Dem etwas mangeln, darum etwas mangeln, daß ein Mägdlein, daß ein Greis Ihn aus dem Auge verloren? Da hätten Maria und Joseph vertrauen, oder eher, als am Abend, nach Ihm schauen sollen! – Die Liebe war groß, das zeigt sich im Schmerz des Verlustes; aber sie war zu menschlich – „weil sie zu schmerzensreich war“? Vielleicht auch darum, aber doch mehr darum, weil sie auch beim Wiederfinden noch einen Schmerz zuläßt, ja fast einen Vorwurf in den Worten: „Warum hast Du uns das gethan?“ Ist Er doch über allen Vorwurf erhaben! Wer will Ihn darum tadeln, daß im Tempel, in Mitten der Lehrer, Sein Geist erwacht, daß an dem Lichte der Lehrer Sein Licht und Recht entzündet wird, daß Er ein Vorspiel Seines Lehramts gibt, daß Er aufs Angesicht der Greise und Männer, zu deren Füßen nicht, in deren Mitte Er sitzt, eine Morgenröthe Seines Tages wirft? Allzutraulich redet die menschliche Mutter Den an, welchem der HErr vom Himmel Sein vollkommenes Wohlgefallen bezeigt. Darum wird sie auch mit sanfter Majestät gefernt vom Herzen – und die Eltern müßen faßen, daß der Knabe ihnen entwachsen, für sie zu hehr und zu erhaben ist. O Er ist groß! Und Er ist doch so gut. In einem Augenblick verstummt die Rede: „ich und Dein Vater“, da das Wort gesprochen war von Dem, das Seines Vaters ist. Und im zweiten Augenblicke – wie überaus schön ists, wenn Er den Tempel verläßt und kindlich Joseph und Marien folgt. Nach der Offenbarung Seiner Herrlichkeit so fromme Niedrigkeit, so heiliger Gehorsam! – Kannst du sagen, Leser, nicht, wie es in Christi Seele aussah, (denn das kannst du nicht!) aber wie in der Eltern Herzen? – – „Gebenedeit sei Mariens Sohn, der da kommt im Namen des HErrn.“ Ja, gebenedeit sei Er, und Seine Benedeiung komme über unsere Kinder, bei denen der Eltern Vertrauen zu lange dauert in der Regel und zu groß ist, die einer Liebe bedürfen, die allzeit wie Maria sucht, was verloren ist.


Am zweiten Sonntage nach dem Erscheinungsfeste.
Joh. 2, 1–11.

 1. Bleib nicht, lieber Leser, an den Worten: „Weib, was habe Ich mit dir zu schaffen?“ hängen, sonst übersiehst du das, was viel heilsamer ist. Keine Mutter darf sich in die Amtsgeschäfte des Sohnes mischen, denn für diese haben alle Priester und Amtleute eine Instruction 5. Mos. 33, 9., welche sie nicht überschreiten dürfen. Viel weniger darf sich die Mutter JEsu in Seine Amtsgeschäfte mischen. Was will sie den barmherzigen und weisen HErrn berathen? Viel beßer hätte sie in der Stille betend gesprochen: „HErr, Du weißt alle Dinge, Dein Wille geschehe.“ Er hat keine Helfer: wer kann Ihm beistehen? „Er offenbart Seine Herrlichkeit“, und an der läßt Er auch der besten, nämlich Seiner Mutter keinen Antheil.

 2. Auf Eins möchte Ich dein Auge richten und auf noch Eins. Das Erste? Bei welcher Gelegenheit that Er Sein erstes Wunder, bei welcher offenbarte Er Seine Herrlichkeit zuerst? Es war eine Hochzeit. So ehrte Er also die Ehe, so gefällt Ihm also die Ehe! Wie sollte sie auch nicht, da Er sie selbst gestiftet hat? Soll Er etwa über Seine eigene Stiftung erröthen? Seine Werke sind gut. Da Er am Ende der Schöpfung ansah, was Er gemacht

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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 328. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/336&oldid=- (Version vom 1.8.2018)