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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

in den Seelen seiner Unterhirten richtiger erkennen, und milder würdigen werde, als ich. Aber so gewagt ist meine Appellation, daß ich fürchte, es möchte ein Rest von Hochmut dahinter stecken, und mich hindern nackt und bloß mich ins Meer der Gnaden zu werfen, und an die blutenden Wunden meines Erlösers zu legen. Jedenfalls aber erkenne auch ich mit St. Paulo das eigene Gericht für trüglich, wie das Gericht anderer Menschen, so daß ich mit St. Paulo des Advents gedenke, der Wiederkunft des HErrn, und wahrlich mit Schaudern und Schrecken dem Apostel nachsage: „Der HErr ists, der mich richtet.“

 Es ist, meine lieben Brüder, in unserem Texte wiederkehrend ein Wort gebraucht, welches M. Luther ganz einfach mit dem deutschen Worte „richten“ wiederzugeben versucht, allein dies einfache deutsche Wort drückt den Sinn des griechischen Wortes nicht völlig aus. Es liegt darin etwas, wie wenn ich sagen wollte „beurtheilen, würdigen, classificiren.“ Die Corinther wollten, versteht sich, auch wenn sie einen von den ihnen bekannt gewordenen großen Lehrern den andern vorzogen, die andern mit ihrer Gab’ und Leistung nicht gar verwerfen und vernichten; aber sie beurtheilten und classificirten die Lehrer und wiesen einem jeden auf der Stufenleiter, die sie sich dachten, seine Sproße an, und das ist es eigentlich, was ihnen der Apostel verdenkt, und was ihm andrerseits so gleichgiltig ist, wenn er ihnen zuruft: „Mir ist ein geringes, daß ich von euch classificirt oder beurtheilt werde, oder von einem anderen menschlichen Tage.“ Ein Mensch sieht am anderen, was vor Augen ist, und wenn er da auch die Gabe und Leistung eines Lehrers richtig beurteilen könnte, so hätte er doch damit selber den Lehrer noch nicht richtig beurteilt. Man urteilt so oft über Gab’ und Leistung, als wäre damit der Mann beurteilt, und doch gehört zum urteilen über den Mann und seinen Werth der Blick in sein Inneres, in die Heimlichkeit des Herzens und in die Rathschläge seiner Gedanken, ein Blick und Wißen, welche der Mensch nicht einmal für sich selber hat, geschweige für andere. Denn wenn es gleich gewis ist, daß der Mensch im Vergleich mit anderen sich richtiger beurtheilt und da das Wort gilt: „Des Menschen Geist weiß, was im Menschen ist;“ so ist das doch blos im Vergleich der Kenntnis gesagt, die andre von uns haben, während des Menschen Herz so tief, und seine Gedanken, Absichten und Rathschlüße so verschlungen sind, daß sich auch niemand auf seine Selbsterkenntnis verlaßen kann. „Wer kann das Herz ergründen,“ fragt Gott, und beantwortet die Frage mit Ausschluß sogar des eigenen Geistes des Menschen: „Ich, der HErr kanns ergründen.“ Der HErr kann die Finsternis der Seele, und was in ihr verborgen liegt, erkennen und Licht hinein bringen und die Rathschläge der Herzen offenbaren, und wie er den Leibern die Seele wiedergibt, so kann er an jenem Tage auch den Thaten und der Amtsarbeit Seiner Knechte die Seele wiedergeben, nämlich die Absicht, die bei einer jeden Handlung war, den Willen, und ans Tageslicht bringen, wie es mit all dem Predigen und Amtiren gemeint war. Da kanns dann gehen, wie St. Paulus 1. Cor. 13 sagt: „Wenn ich mit Menschen- und Engelzungen redete und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönend Erz und eine klingende Schelle.“ Da kann am Ende der gesammten Amtswirksamkeit manches gefeierten Predigers und Pfarrers das Beste fehlen, die heiligende Treue des Haushalters, die von niemandem erkannte tief verborgene Schweigerin, die im Gerichte das Zünglein in der Waage stellt und bei der Classification jenes großen Tages zu allen glänzenden Amtsthaten das genau treffende Gewicht hinzufügen wird, nach welchem alles erst groß und klein sein wird. Das wird ein furchtbares Gericht geben und da wird sich’s erst zeigen, wie verkehrt oft die Urteile der Menschen gewesen sind. Da wird Preis und Ehre und unvergängliches Wesen manchem zu Teil werden, von dem mans nicht erhoffte, und im Gegenteil die preiswürdige Amtswirksamkeit manches Predigers wie welke Blätter eines erstarrenden Baumes in die Hölle niedergeschüttelt werden.

 Ich habe euch, meine lieben Brüder, im Verlauf des letzten Teiles dieser Predigt schon meine Verwunderung ausgesprochen über die Worte St. Pauli: „Ich bin mir nichts bewußt“; eine nicht geringere Verwunderung empfinde ich über den Schluß der Epistel, der sich unmittelbar an die schauder- und schreckenerregenden Worte von der Erleuchtung der Finsternisse unsres Herzens und der Offenbarung der Rathschläge anschließt. Im Vorgefühle des großen Advents des HErrn zum Gerichte über Seine Knechte, sagt St. Paulus: „Alsdann wird einem jeglichen von Gott her

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 027. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/34&oldid=- (Version vom 1.8.2018)