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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Tode unter gräßlich sterbenden Kindern entgegengehend, ja selber sterbend, steht vom Stolze, von der Fieberkraft des falschen Selbstbewußtseins aufrecht gehalten. Vor ihr liegt, nicht ein Kleiner, vor ihr liegt ein Weinender, ein Mitleidiger, ein Mächtiger, ein Helfer ohne Gleichen, Gottes Sohn in Seiner Herrlichkeit, – Er bittet, Er fleht, Er reicht Arzenei und Leben, das Verdienst Seiner Leiden, eine Fülle von Gnade dar und fleht um nichts, als daß die häßliche Cananäerin sich und ihren Kindern helfen laße, stündlich, augenblicklich, völlig, ewig! Aber der HErr HErr, der Allmächtige, der alle Kronen trägt, siegt nicht. Seine Liebe ist mehr, ja mehr, als Mutterliebe, – und Er siegt nicht, – Seine Hände mit dem Himmel, den sie reichen, sinken, – Seine Thränen rinnen hoffnungslos. –

 Das Weib, die Welt und ihre Kinder! Welch ein Bild! – Ach, Bruder, laß uns nicht alle Dinge verkehren! Laß uns knieen mit dem cananäischen Weibe! Er soll uns erhören, wie Er sie erhörte, zu Seiner Stunde und in Seiner Maße!


Am Sonntage Oculi.
Luc. 11, 14–28.

 ALle Evangelien der Fastenzeit zeigen uns den HErrn in Leiden, nur nicht in den letzten Todesleiden, sondern in den Leiden, die das bittere Leben bietet. Seine Todesleiden vergeßen wir nicht, die Leiden Seines Lebens sollen nicht vergeßen sein in der Zeit Seiner Leiden. Heute sehen wir Ihn, den Weibessamen, wider den Satan und seinen Samen streiten. Er treibt die Teufel aus, – und ärntet Undank, Lästerung und Mistrauen. Meinst du, daß solches Streiten nicht auch Leiden gewesen sei? Leicht ist die Arbeit, wenn sie von denen erkannt wird, für welche man sie thut; aber wenn man sich zum Heile Anderer müde arbeitet – und des „Teufels“ Dank dafür bekommt, wenn man am Ende noch erkennen muß, man habe sich für Schlangensamen abgemüht, Zeit, Kraft und Mühe nur auf Undank verwendet: das ist doch Leiden, lieber Leser, – und, wenn du ein Tröpflein davon gekostet hast, wirst du ein wenig ahnen können, was JEsus Christus in Seinem Leben litt. Wahrlich, es kommt einem fast, wie dem Weibe, von welcher am Ende des Evangeliums geschrieben steht, Ihm zum Trost zu rufen: „Selig ist der Leib, der Dich getragen hat, und die Brüste, die Du gesogen hast!“ Man möchte beim Lesen dieses Evangeliums ein herzinniges Zeugnis geben, daß man sich Seiner nicht schämt!

 Willst du Ihm ein solches Zeugnis geben? Nimm Sein Zeugnis an. „Selig sind, die Gottes Wort hören und bewahren.“ – Es gibt Leute und gab sie, ja sie bildeten einmal eine eigne Secte, – Leute, die auch auf Seine Worte und Werke wie Ketzerrichter sehen und aus ihnen rechten, unanstößigen Sinn zu gewinnen, sich fast schämen, – Leute, die vor der Hingabe an Sein Wort sich scheuen, weise und gut zu sein glauben, wenn sie nicht nur allen Dingen, sondern auch dem ewigen Lichte des göttlichen Wortes zwei Seiten abgewinnen können – die ihre Freude daran haben, unausgemacht zu laßen, ob Gott etwas und was Er in Seinem Worte rede. Ihr höchstes Streben ist, nicht betrogen zu werden, darüber werden sie mistrauisch gegen Gott und Sein Wort und Sein heiliges Werk. Sie können nichts Großes, nichts Gutes mehr glauben, wie die Pharisäer im Evangelium. Es ist ihnen alles verdächtig. Die Welt wird ihnen eine schlimme Rotte; doch sie sind frei von ihr, sich mistrauen sie nicht. Sie laßen sich über keine That des HErrn das Urtheil nehmen, – kein Herz fast meint es redlich, – ächte Bekehrung des Sünders gibts nicht. – Bruder, laß uns so nicht sein! Sein Wort laß uns nach einfachem Sinn ohne weiteres für Sein Wort halten und eher glauben, daß die Welt und unsere eigene Weisheit lüge, als daß ein Titel Seiner Reden lüge. Und von der Wirkung Seines Wortes laß uns allzeit Gutes hoffen, so werden wir es sehen! Und wenn wir seine Wirkung in einem Menschen sehen, so wollen wir nicht sorgen, ob sie rein sei, sondern beten, daß sie, wenn sie es nicht ist, rein werde, daß

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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 339. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/347&oldid=- (Version vom 1.8.2018)